Musenkuss um 12:53

Gestern war es, als ich träumte,
dass du mich auf meiner Reise
begleiten wirst … gemeinsam, für
immer, für ewig! Nichts sollte uns
mehr trennen! Nichts! Glaubst
du … glaubst du, dass Träume
Wirklichkeit werden?
Azadeh
oder die 13 Tage des Leutnant Johann Gottfried von Märwald
von Richard K. Breuer

Hoppla. Jetzt wurde ich doch glatt Zeuge (besser: „Opfer“) eines Musenkusses*. Yep. Ich wurde gerade im Strrbcks geküsst. Recht unspektakulär muten solche Küsse an. Ich kenn ja gottlob schon einige davon. Da sitzt man irgendwo, schreibt vielleicht gerade ins Tagebuch, da kommt einem ein Gedanke, der einen weiteren auslöst. Man hebt den Kopf, legt die Feder weg, starrt vor sich hin und lässt die Gedankenkette einfach mal davon galoppieren. Das alleine ist noch keine Erwähnung wert, weil in einem Dichter hin und wieder die Gedanken und Phantasien verrückt spielen. Das Besondere ist, wenn man Anfang und Ende der Story benennen kann, wenn man einen Hitch (heißt es so?), einen Twist hat, der einem Breuer zur Ehre gereicht. Schließlich gibt es diesen Aha-Stolperstein noch in jedem meiner bisherigen Bücher (da mag MADELEINE wohl die Ausnahme darstellen, da geht alles seinen gewohnten Gang – vielleicht, dass die Intensität der Gewalt einen vor den Kopf stößt, aber sonst ist es ein klassisches Road-Movie im Jahre 1789).

Da ich selten einen Musenkuss in flagranti ertappe, tut es gut, diesen jetzt mal zu fangen und hier einzustellen. Auf dass ich mich später erinnern werde, wo alles begonnen hat. Gut, begonnen hat es eigentlich bereits gestern. Da kamen mir die wichtigsten Zutaten in den Sinn. Während ich im Zug saß, über Gott und meine innere Welt „bloggte“ und die Nacht an mir vorüber zog, da war das Setting, das Grundgerüst im Kopf. Aber solche Grundideen kommen und gehen. Es braucht das gewisse Etwas, das mich anspricht, in erster Linie (und nicht den Leser). Ich will nicht zu viel verraten, weil es ja noch nicht auf Schiene ist und sich hundert Trillionen Aspekte ändern können, aber am Ende ist auch wieder nur eine M … [da hat mich jetzt Twitter abgelenkt, weil @marypoppins2608 vom Musen- zum Negerkuss kam]

Ach ja, das wollte ich sagen: Am Ende ist es auch wieder nur eine Melange aus Altbekanntem. Weil man eben ein Kind seiner Zeit ist. Wer ROTKÄPPCHEN 2069 gelesen hat, der weiß, wie so eine ScriptWriter-Simulations-Software funktioniert, die die, an einen Quantenrechner angeschlossenen Probanden eine Story erleben lässt. Nicht anders verhält es sich mit einem Künstler. Er baut auf das Vergangene auf, vermengt und vermischt es, um „Neues“ auf das „Alte“ zu setzen. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht zu verwechseln mit Rückwärtsgewandheit. So, wie der Ärchologe, der sich mit tausend Jahre alten Kulturen bis ins kleinste Detail auseinander setzt um neue Zusammenhänge zu erkennen, darüber lang und breit erzählt, darüber schreibt, Vorträge hält, aber in der Gegenwart lebt und da auch leben möchte.

AZADEH, ja, so heißt sie, meine Muse. Seit bald 9 Jahren weilt sie an meiner Seite und freut sich, wenn ich zu Papier und Feder greife. Gewiss, dafür gibt es keinen forensischen Beweis, aber wer braucht diesen? Ich bestimmt nicht. Bestimmt nicht. Schön.

*update: 20.01.2011 – ich habe nun den Arbeitstitel auf „88/4“ festgelegt.

Eine Parabel über zwei Welten und ein paar Münzen

Bevor ich die vergangenen Tage in mein Tagebuch kritzle, sie festhalte, kommentiere und bewerte, noch in aller Eile eine Parabel über das Leben. Gewiss, diese Parabel zeigt uns nur einen Teilaspekt, einen Ausschnitt, trotzdem ist es wichtig, darüber zu schreiben. Bevor man sich in etwaigen Spekulationen ergeht, nun, eine Parabel bringt Erlebtes auf den Punkt, das heißt aber nicht, dass es sich so oder so ähnlich verhalten hat. Vielmehr entsteht diese kurze Geschichte aus einer Vielzahl an Eindrücken und Erfahrungen. Manche liegen lange zurück. Manche könnten von gestern sein. Aus dieser seelischen Melange entstand die Idee zur nun folgenden Parabel.

Ob ich Lust auf Sushi hätte, wurde ich gefragt. Ich nickte. Und doch konnte ich an dieser Stelle nicht ahnen, wohin mich diese Zustimmung führen würde. Nämlich in eine andere Welt, in eine exklusive Lokalität, die die köstlichsten Speisen der Japanischen Insel mundgerecht präsentierte. Diese kleinen, feinen Spezialitäten drehten sich förmlich vor meinen Augen. Hin und her. Hin und her. Hin und her. Ich verschlang mit meinen Augen bereits die Hälfte dieser Appetithäppchen, bevor noch die Bestellung aufgegeben wurde. Ich war in einem seligen Zustand, förmlich in Watte gepackt und dachte daran, meine zahlreichen Begleiter rührend zu danken, dass sie mir die Möglichkeit boten, von diesen außerordentlichen Speisen zu probieren, meinen leeren Magen zu füllen. Ich schwelgte in Worten und Gesten, zeigte auf dies und nahm mir jenes. Oh, welch Köstlichkeit. Wie frisch der rohe Fisch schmeckte. Eine lukullische Wohltat. Ich kaute gerade lustvoll (ich fixierte bereits das nächste Tellerchen mit einer weiteren Köstlichkeit), als man mich darauf aufmerksam machte, dass hier jedes Tellerchen ein kleines Vermögen kostete. Mit einmal schoss mir die Blässe ins Gesicht. Ich schluckte. Ich schluckte. Ich schluckte. Nun war die Situation aus dem Ruder gelaufen, fiel ich aus der Watte in die kühle Realität der exklusiven Lokalität. Erst jetzt dämmerte es mir, dass meine Begleiter vermutlich gar nicht erst die Absicht hatten, die Zeche des Dichters zu übernehmen. Da saß ich nun. Vor all diesen sich drehenden und überschlagenden Köstlichkeiten und fühlte, ganz vorsichtig, wie viele Münzen ich noch in der Hosentasche hatte. Ich musste nun in aller Eile eine Antwort finden, auf die Frage, warum ich denn nichts mehr essen wolle, wo ich doch zuvor so vollmundig meinte, alles zu verschlingen. Ja, damit wurde mir mit einem Schlag bewusst, dass ich hier nichts zu suchen hatte. Es war eine andere Welt. Während ich meine Münzen zählte, warfen die Gäste hier mit Scheinen nur um sich. Geld spielte hier keine sonderlich große Rolle. Man hatte es. Sprach nicht darüber. Gab es aus. Für Schönes. Für Nichtiges. Für alles, was man gerade wollte.

Ich saß in der Falle. Weil ich den Fehler beging, nicht gleich, also von Anfang an, die Situation klarzustellen. Weil man sich in Mitten dieser großzügigen Menschen so angenehm umsorgt fühlt, so sicher – bis diese misstrauisch werden. Auf mein kleines Budget hinzuweisen, zu einem Zeitpunkt, wo die anderen gar keine andere Möglichkeit mehr haben, als mich „auszulösen“, ist eine Anbiederei, eine Bettelei schlimmsten Ausmaßes. Es riecht nach Kalkül. Es stinkt nach Erbärmlichkeit. Und mit einmal würden die Herrschaften erkennen, dass ich einer Welt zugehörig bin, in die sie nicht gehören, nicht gehören wollen. Sie sind peinlich berührt, lächeln einem freundlich zu und machen in Gedanken bereits einen Schluss-Strich. Strich drunter, wie es Robert Graves einmal nannte.

Ich habe also die letzten Münzen auf den Tisch gelegt, meine Rechnung bezahlt. Alles schien in Ordnung – und doch war nichts mehr so, wie es zuvor war. Zum einen waren sich nun beide Seiten klar, dass es zwei Welten gab, die miteinander nicht vereinbar waren. Zum anderen bemerkte ich meine Unfähigkeit, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken, die Situation aufzulösen und damit die unangenehme Angelegenheit halbwegs zu retten. Aber wenn du einmal den gemeinsamen Weg eingeschlagen hast, wenn du doch nur dazugehören willst, dann schweigst du, bleibst stumm und hoffst, dass die anderen deine monetären Unzulänglichkeiten erkennen. Durch mein Schweigen, nein, durch mein seltsam unstimmiges Gehabe, das ich schließlich an den Tag legte, um mich zu erklären (tatsächlich ging es mir nur darum, den Verdacht der „Zahlungsunfähigkeit“ von mir abzuwenden), muss ich jeden skeptischen Geist im Hinterkopf meiner Begleiter geweckt haben. Ja, sie machten sich ihren Reim und zogen die notwendige Konsequenz, weil ich es nicht konnte, vielleicht auch gar nicht wollte. Deshalb darf man hier niemandem einen Vorwurf machen. Ich hätte an ihrer Stelle sicherlich nicht anders reagiert.

Ja, darin liegt das ursächliche Problem jeder Beziehung, ob bekanntschaftlich, freundschaftlich oder intim: nämlich die Basis des anderen, auf der dieser seine Entscheidungen trifft, nicht zu kennen. Transparenz ist der Schlüssel zu einer funktionierenden Beziehung. Das ist die Quintessenz dieser Parabel, aber so einfach, wie diese „Binsenweisheit“ klingt, so einfach ist es im echten Leben nicht. Weil der Mensch hofft, vielleicht sogar glaubt, dass es nur eine Welt gibt, in der alle Differenzen ausgeräumt werden können. Vielleicht ist es ein romantischer Blick, aber mit Sicherheit kein realistischer. Am Ende entscheiden viele Münzen und wenige Gedanken über Freiheit oder Knechtschaft, über Lust oder Last. Das war früher so. Das ist heute nicht anders. Nur die Münzen sehen anders aus.

.