Die Angst geht um

Ich lese gerade wie versessen die Taschenbuchausgabe von Ernst von Salomon Der Fragebogen. Anfänglich, naja, brauchte es eine Weile, bis ich mit dem Geplauder warm wurde, aber dann entwickelte es eine ungeheuerliche Sogwirkung. Faszinierende Einblicke in das Leben eines deutschen Revolutionärs und Kreativen in der Zeit zwischen 1900 und 1945. In dieser Epoche, wenn man so will, zerbrach das alte Europa. In der Zwischenkriegszeit war Deutschland Schauplatz einer lärmenden und blutigen Ideenfindung in Bezug auf Staat und Gesellschaft. Alle Ehrgeizigen und Hoffnungsfrohen formierten sich. Die Tatkräftigen und Mutigen schritten voran. Die Bewahrer bewahrten. Die Revolutionäre revoltierten. Und dazwischen eine Unzahl an allerlei Menschen, die das Schicksal herausforderte.

Über 80 Jahre später leben wir in sicheren Zeiten. Es gibt soziale Netze. Es gibt die Europäische Union und damit (so heißt es) keine Grenzen innerhalb der europäischen Staaten. Das gegenseitige Misstrauen, die gegenseitige Missgunst gehören der Vergangenheit an. Der europäische Bürger hat alle Möglichkeiten, alle Freiheiten. Und doch verharrt er in einem dunklen Brüten.

Die größte Stärke des Menschen war es, das gegenwärtige Unheil zu ertragen, die Möglichkeiten abzuwägen und tatkräftig an der Zukunft zu arbeiten. Der Bauer hat gegenüber der Natur den nötigen Respekt, aber keine Angst. Nur die gesellschaftlichen und finanziellen Umstände, die machen ihm Angst. Früher: Der Bauer mag sich in schlechten Zeiten nur von kargen Wurzeln und wässrigen Suppen ernähren, aber es liegt an ihm und seiner Familie, diese schlechten Zeiten durchzustehen. Heutzutage ist es ein System, das ihn vom Hof verjagt, wenn er die Schuldenlast nicht mehr tragen kann. Verjagt von einem Stück Land, das seit Generationen im Besitz seiner Familie ist. Wie mag es diesen ausgezehrten Männern gehen, wenn Herren in dunklen Anzügen und Aktentaschen an ihre Tür klopfen und in einem nüchternen Gespräch von einer Zwangsversteigerung des Hofes drohen. Darin liegt diese gegenwärtige Unfähigkeit des Bürgers und Bauers, das eigene Leben zu meistern. Immer ist er von anderen und im Besonderen vom Markt abhängig. Immer sind es nicht fassbare, nicht greifbare Marktteilnehmer, die über seine Gegenwart und vor allem über seine Zukunft entscheiden.

Deshalb, das ist jetzt eine spekulative Vermutung von meiner Seite, deshalb ziehen sich Bürger und Bauer aus der Gesellschaft zurück. Sie nehmen nicht mehr teil. Sie leisten ihren Beitrag, gewiss, aber sie nehmen nicht mehr teil. Damit wird Politik – die Übereinkunft der Menschen, wie sie gemeinsam leben wollen – in die Hände einiger weniger Scharlatane gelegt, die nichts waren, die nichts sind. Durch die wirtschaftlichen Verschiebungen reißen die gesellschaftlichen Verbindungen ab. Die Emanzipation, als gutes Beispiel, hat Frauen in die Arbeitswelt geworfen und sie genauso abhängig gemacht wie zuvor die Männer. Das ist die Ironie der Geschichte, wenn man so will. Viele Frauen kämpften um ihre Freiheit innerhalb der Gesellschaft und wurden frei – um auf der anderen Seite, innerhalb des Systems, unfrei zu werden.

Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr dünkt mir, dass wir allesamt Stück für Stück jegliche Freiheit aufgegeben haben. Wir haben die Freiheit eingetauscht, gegen Sicherheit und Wohlstand. Aber mit diesem Tausch haben wir als ungewollte Beigabe auch die Angst in den Einkaufskorb gelegt bekommen. Und diese Angst ist es, die uns nun jegliche Freude an Sicherheit, jeglichen Genuss am Wohlstand verleidet. Mehr noch, wir tun alles, um dieser Angst auszuweichen und werden dadurch noch unfreier, noch abhängiger. Teuflischer Kreislauf, der nur in eine Katastrophe müden kann, die weder Sicherheit, noch Wohlstand kennt.

Die Ratingagenturen haben Österreich (und freilich noch anderen EU-Staaten) in der Frage der Kreditwürdigkeit herabgestuft. Damit haben nun die Politiker freie Hand, für den Bürger unangenehme Entscheidungen durchzusetzen. Wir können davon ausgehen, dass interessante Zeiten auf uns zukommen.