
Ich setzte bei der Kellnerin ein, was ich hatte: kopierte Poesie, angelesenes Wissen, viele Wörter. Sie fand meine Art fein und die der anderen grob, aber gevögelt hat sie nicht mit mir. […] Im Dorf lebte ein Komponist, in einem sehr schönen, kultivierten Haus. Ihm zeigte ich damals meine Gedichte, die ich in Serie schrieb und die immer das gleiche Thema hatten: die Welt ist ein absurdes Jammertal […] Er brachte Ordnung in meine Lesewut. […] Ich verbrachte Tage, Wochen in seiner Bibliothek, er schrieb mir Entschuldigungen für die Schule [Handelsakademie]. […] Der Komponist, mein geistiger Ziehvater […]
Biographie des Lesens
Peter Turrini
entn. Lesebuch zwei, S. 347f., Europa Verlag 1984
»Zum 70. Geburtstag von Peter Turrini zeigt die Burg sein autobiographisch gefärbtes Stück Bei Einbruch der Nacht über Kärnten, Kunst und Konvention, Selbstsucht und -überschätzung, politische und künstlerische Ignoranz, Wahrheit und Verstellung.« [Pressetext] Uraufführung: 2006
Sehr geehrter Herr Turrini,
Sie werden sich nicht erinnern können, aber in den frühen 1980er Jahren erhielten Sie all ihre Briefe und Päckchen von einem Postbeamten, dem Sie, warum weiß ich nicht mehr, eines Ihrer neuen Bücher mitgegeben hatten, samt einer Widmung. Dieses Buch befindet sich in meinem Besitz. Nicht zufällig, nein, ist doch der Postbeamte mein Vater. Ich erinnere mich jedenfalls, dieses Buch, das er nach Hause brachte, immer wieder aufgeklappt und die von Ihnen hingekritzelte Widmung angesehen zu haben – vermutlich suchte ich damals das Außerordentliche, das Besondere, in diesem simplen Kugelschreiberblau.
Wenige Tage ist es her, als ich in der Burg Ihr Stück Bei Einbruch der Nacht sah. Ja, ich war Augen- und Ohrenzeuge dieses Dramas. Ich kann Ihnen versichern, dass es nur zwei Zuseher gab, die vorzeitig den Saal verließen, der Rest des Publikums blieb bis zum Ende. Ehrlich gesagt, ich war schon seit geraumer Zeit nicht mehr in der Burg, deshalb kann ich nicht beurteilen, ob das Gezeigte und Gespielte im Rahmen des Gewöhnlichen blieb oder diesen sprengte. Nichtsdestotrotz muss ich meinen Hut ziehen und Ihnen Respekt zollen. Um solch ein Stück im Alter von 62 Jahren auf die Bühne zu bringen, meiner Seel‘, da gehört eine Menge Chuzpe dazu.
Zugegeben, hätte ich nicht vorab gelesen, dass dieses Stück autobiographisch gefärbt ist, ich hätte Ihnen hier, an dieser Stelle, vorgeworfen, nur noch ein dramatischer Agent Provocateur zu sein. Heutzutage ist die Kunst des Provozierens, die Kunst des Schockierens, die einträglichste aller Kunstformen – jedenfalls so lange, so lange sich der Künstler an die verordneten Tabu-Themen hält. Man fragt sich, warum dem so ist, aber so ist es nun mal. Im Übrigen wusste ich wirklich nicht, dass Sie in Kärnten geboren und aufgewachsen sind und dass sie Ihre Jungendjahre im/am Tonhof verbringen durften, ein herrschaftlicher Gutsbesitz, der seit den 195oer Jahren als „Künstler-Sommerresidenz“ galt. So steht es im Internet. Und diese Residenz samt ihrer Bewohner, so scheint es mir, war Blaupause für das besagte Theaterstück. Starker Tobak.
Als Schriftsteller und Künstler, der ich mich fühle, verstehe ich den inneren Zwang, Erlebtes erlesbar zu machen. Ich habe mich deshalb während des Stückes beinahe minütlich gefragt, wie viel davon ist kreative Überzeichnung, wie viel davon ist verfälschte Wahrheit. Als Künstler steckt man immer noch in der Haut eines Menschen, mit all seinen Stärken und – vor allem – Schwächen. Er möchte die Empfindungen, die eigenen, in die Welt schreien und weiß doch, dass sie keiner verstehen würde. Deshalb beginnt er, die Wahrheit in Kleider zu stecken. Ja, er legt erdachten Charakteren erdachte Sätze in den Mund und vermischt Mann mit Frau, Frau mit Mann, Junge mit Mädchen, Mädchen mit Junge und trotzdem geht am Ende die Gleichung auf. Der Schutz des Künstlers besteht nun mal darin, Wahrheit und Empfindung so maßlos übertrieben darzustellen, dass der gewöhnliche Bürger – unmöglich ahnend, wie die wirkliche Welt da draußen tatsächlich beschaffen ist – nur von einer blühenden Phantasie ausgehen kann.
Wie dem auch sei, Ihr Stück ist nicht nur eine Form der Vergangenheitsbewältigung, sondern auch Zeichen der sich anbahnenden Zustände. Ich möchte sogar soweit gehen, zu behaupten, dass die von Ihnen dramatisierte „Künstler-Sommerresidenz“ bald überall sein wird – kurz und gut: Moral, christlich-familiäre Werte, Tradition, Kultur, Herzensbildung, Sprache, Sexualität, gesunder Menschenverstand, Respekt, Würde, Weisheit, all das ist in den letzten Jahrzehnten Stück für Stück verloren gegangen, besser: wurde und wird dem gewöhnlichen Bürger entrissen, förmlich aus ihm herausgerissen. An deren Stelle treten nun die neoliberalen Heilsversprechungen Gott Mammons, dessen Mantras allgegenwärtig sind: „Habe und du bist“, „Nimm und dir wird gegeben“, „Lüge und dir wird geglaubt“, „Hasse und du wirst geliebt“, „Verkaufe und du wirst geachtet“, „Töte [aus der Luft] und dir wird vergeben“, „Verleumde das Gestern und dir wird verziehen“, „Folge den Worten der Propheten in den Schafskleidern und die Welt wird zum Frieden finden“ …
Zu guter Letzt bleibt mir nur die Hoffnung, dass Sie, Herr Turrini, Ihre Wahrheit noch zu Papier, zur Sprache bringen. Die Vergangenheit ist ein großes Rätsel, ein Mysterium, ein Puzzle. Gefärbte Wahrheit bringt uns in der Entschlüsselung unseres Daseins nicht weiter, ja, es hilft nur jenen, die mit Absicht ein unschönes Damals verklären und vernebeln und die mit allen Mitteln versuchen, den gewöhnlichen Bürger – er ist ja naiv wie ein kleines Kind – hinters Licht zu führen.
Es gäbe noch viel zu sagen, doch belassen wir es vorerst dabei. Besser, der geneigte Leser füllt die fehlenden Stellen selber aus. Der Sohn eines Wiener Postbeamten grüßt den Sohn eines italienischen Kunsttischlers, irgendwann im Mai des Jahres 14 n. nine eleven.
R. K. B.