Antisemitismus goes wild: Lueger, Goethe, Kaiserin Maria Theresia, Luther, u. v. m.

Lueger-Goethe

Die Stadt Wien gibt bekannt: »Laut Abschlussbericht der im Auftrag der Universität Wien und der Stadt Wien eingesetzten Forschungsgruppe zur Untersuchung und Kontextualisierung der Benennung der Wiener Straßennamen seit 1860 war die politische Rhetorik von Karl Lueger (1844-1910) von aggressiver antijüdischer und deutschnationalistischer Polemik geprägt. Als maßgeblicher Politiker der damaligen Zeit verstärkte Lueger, der durchaus gute Kontakte zu Personen jüdischer Herkunft pflegte, die antisemitischen und diskriminierenden Tendenzen in der öffentlichen politischen Diskussion (etwa wenn er auf Grund der „Verjudung“ der Wiener Universität einen Numerus clausus zugunsten von „Deutschösterreichern“ forderte) und fungierte damit als Vorbild für nachfolgende Politiker

Ich hätte von diesem „Abschlussbericht“ keinerlei Kenntnis genommen, wäre ich nicht zufällig vor wenigen Wochen bei der Technischen Universität am Karlsplatz vorbeigekommen. Erstaunt musste ich feststellen, dass eine Gedenktafel übermalt wurde. Sie gab darüber Auskunft, dass der Vater des späteren Bürgermeister im damaligen Polytechnischen Institut (der heutigen TU), eine (Amts-)Wohnung bezog – Leopold Lueger hatte seinerzeit die Aufsicht über das technologische Kabinett.

Ja, und diese Gedenktafel wurde im Zuge der Fassadengestaltung übermalt – irrtümlich, heißt es von Seiten der TU-Sprecherin. Hm. Also, ich bin nicht mit den Gepflogenheiten der Maler- und Anstreicherbranche vertraut, aber ich wüsste noch von keinem Fall, dass ein Maler mit reinem Gewissen und fröhlicher Unschuld eine Gedenktafel übermalt hätte. Für gewöhnlich wird nachgefragt. Aber wollen wir uns die Sache nicht weiter ausmalen, sondern bleiben beim Faktischen. Nach Wiederherstellung der übermalten Gedenktafel soll eine zusätzliche Tafel Auskunft über „Lueger als Antisemit“ geben:

Derzeit gibt es in Absprache mit der Österreichischen Hochschülerschaft (ÖH) an der TU einen ersten Rohentwurf für den Text der Tafel. Darin heißt es: „… Dabei hat er während seiner Amtszeit, wie schon während seines politischen Aufstiegs ab 1882, den Antisemitismus virtuos als Instrument eingesetzt und damit zur Entwicklung eines aggressiven, durch Hetze und Diskriminierung gegenüber Juden, aber auch Vertretern anderer Nationalitäten geprägten gesellschaftlichen Klimas und zur Verrohung der politischen Sprache beigetragen …“ [Quelle: orf.at]

Warum diese zusätzliche Tafel mit der ÖH abgesprochen werden muss, bleibt ein Rätsel – scheinbar soll hier universitäre Basisdemokratie gelebt werden.

Der wunde Punkt bei alledem ist aber jener, dass die Stadt Wien eine Forschungsgruppe einsetzte, die sich mit der antisemitischen Vergangenheit Wiener Straßennamen lang und breit auseinandergesetzt haben dürfte. Für mein Dafürhalten könnte dieses gut gemeinte Projekt Pandoras Kistchen öffnen und böse Geister in die Welt entlassen.

Denn, wer entscheidet schlussendlich, welche Persönlichkeiten nun antisemitisch, judenfeindlich oder antijudaistisch waren? Sind demnach nicht Hobbyhistoriker und Sittenwächter förmlich dazu aufgerufen, Nachforschungen anzustellen und mögliche Verfehlungen einstmals populärer Ehrenmänner anzuprangern? Es braucht nicht viel Phantasie, um sich eine eingeschüchterte Stadtregierung vorzustellen, die etwaigen laut vorgetragenen Forderungen Stück für Stück nachzugeben bereit ist – bis am Ende von der Größe Wiens und Österreichs nur noch belanglose Bruchstücke übrig bleiben. Glauben Sie nicht? Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele, die ich ohne große Nachforschungsarbeit bereits jetzt aus dem Ärmel schütteln kann:

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
Wie erklärt man sich als aufgeweckter Literat die Esther-Geschichte im Schönbartspiel Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern? Freilich, in der ersten Version von 1773 ist nichts Verwerfliches oder Anstößiges festzustellen – man kann sich darüber auf Spiegel Online Projekt Gutenberg überzeugen. Sieht man sich jedoch die überarbeitete Fassung von 1778 an, huh, da schlackern einem die Knie. Würde man daraus zitieren, die Sittenwächter würden einen sofort in die rechteste aller rechten Ecken prügeln. Sollte nun die Stadt Wien angehalten werden, am Denkmal Goethes eine Hinweistafel anzubringen, dass es der gute Dichter sicherlich nicht so ernst gemeint hatte, bei alledem? Schließlich soll es ja eine Art von Lustspiel sein – auch wenn der Berliner Professor Max Hermann bekennen muss: „… wenn man nicht wüßte, daß es sich um einen Ulk handelt, an vielen Stellen glauben könnte, etwa ein Drama aus Gottscheds deutscher Schaubühne zu lesen.“ [Entstehungs- und Bühnengeschichte, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1900, S. 171]


Kaiserin Maria Theresia (1717-1780)
Im Jahr 1744 und 1745 erließ sie ein Edikt, dass die Juden zwang, Prag, Böhmen und Schlesien zu verlassen. Wie gehen wir nun mit dieser judenfeindlichen Entscheidung um? Sind nun in der Kapuzinergruft, neben ihrem Sarg, Hinweistafeln aufzustellen, die besagen, dass die „junge“ Kaiserin unter bösem Einfluss ihrer Berater stand? Oder dass man die Ausweisung im Kontext der Zeit sehen soll? Aber dann müsste öffentlich gemacht werden, in welchem Jahr die Linie zwischen dem Akzeptierten und dem Nicht-Akzeptieren liegt. Ich erwarte mir eine spannende Diskussion.


Martin Luther
(1483-1546)
Möchte man auf das Alterswerk des Urhebers der Reformation hinweisen, könnte einen bereits die bloße Nennung der Buchtitel in Verlegenheit bringen, deshalb verzichte ich an dieser Stelle darauf. In Wikipedia gibt es zu diesem Thema sogar einen eigenen Eintrag – vermutlich um zu retten, was noch zu retten ist. Darin heißt es, dass sich die evangelische Kirche „seit 1950 allmählich von Luthers judenfeindlichen Aussagen und deren historischen Wirkungen im Protestantismus distanziert. Ob und wie weit auch seine Theologie zu revidieren ist, wird diskutiert.“ Bedeutet das am Ende, dass an allen evangelischen Kirchentüren eine „Mea culpa“-Informationstafel angeschlagen werden muss? Und wird die katholische Kirche – in christlicher Verbundenheit – nachziehen?

Nur damit wir uns verstehen – ich stelle nicht die sogenannte Aufarbeitung vergangener Ereignisse in Frage, sondern wie mittels eines un-demokratischen „Kommisarbriefes“ ein Teil Wiener Identität sang- und klanglos geopfert und übermalt wird. Vergessen wir nicht, dass die Geschichtsschreibung immer von seiner gesellschaftlich-politischen Zeit geprägt ist. Gestern Rebell. Heute Freiheitsheld. Morgen Verräter. Das Geschichtsforscher-Ehepaar und Pulitzerpreisträger Will und Ariel Durant bringt es auf den springenden Punkt:

[meine Übersetzung:] Wissen wir denn wirklich, wie die Vergangenheit war, was tatsächlich geschah, oder ist Geschichte „eine Fabel“, auf die wir uns „geeinigt“ haben? Unser Wissen über ein vergangenes Ereignis muss immer unvollständig, womöglich fehlerhaft sein, verhüllt durch mehrdeutige Beweise und voreingenommene Historiker, und vielleicht sogar durch unsere patriotische oder religiöse Parteinahme verfälscht. […] Do we really know what the past was, what actually happend, or is history „a fable“ not quite „agreed upon“? Our knowledge of any past event is always incomplete, probably inaccurate, beclouded by ambivalent evidence and biased historians, and perhaps distorted by our own patriotic or religious partisanship.

The Lessons of History
H. Wolff, New York [E-Book]

Ich hoffe, ich habe meinen Standpunkt als Bürger der Stadt Wien klar gemacht.

 

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