Der Mensch, wie es Friedrich Melchior Baron von Grimm (1723-1807) so spitzfindig auf den Punkt bringt, ist weder für Freiheit noch für Wahrheit gemacht. Trotzdem gibt es immer wieder kluge und weitsichtige Apostel, die das Mantra der Freiheit predigen. Aber seien wir mal ehrlich: Wer kann von sich behaupten, frei zu sein? Ja, welchen Unterschied macht es, von einem tyrannischen Herrscher gezwungen zu sein, in einer Fabrik zu arbeiten oder von einem Arbeitsmarktservice? In beiden Fällen werden Zuwiderhandlungen bestraft. Freiheit für den Einzelnen gibt es es nur dann, wenn dieser seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten und Recht sprechen kann. Ansonsten wird der Einzelne zum Spielball der Mächtigen, deren „tyrannisches“ System einfach nur darin besteht, Gesetze festzulegen, die Abhängigkeiten erzeugen und juristische sowie polizeiliche Maßnahmen gegen Gesetzesbrecher vorsehen.
Ein marxistisches System erkennt man daran, dass es die Kriminellen verschont und den politischen Gegner kriminalisiert, soll der sowjetische Dissident Alexander Solschenitzyn gesagt haben. Machen wir aber nicht den Fehler, zu glauben, dieses „marxistische System“ hätte sich mit dem Niedergang der UdSSR in den 1990er Jahren in Luft aufgelöst. Nein, nein. Dieses globale System der Machterhaltung besteht fort und ist mit Sicherheit nicht tot zu kriegen. Nur die Hülle, der Schein, die Illusion werden den gegenwärtigen Befindlichkeiten angepasst.
Jede Regierung, wo ein Bürger so unmäßig reich werden kann, verrät ein verborgenes Verbrechen, das Untersuchung verdient, soll Montesquieu (1689-1755) einst gesagt haben. Von diesen Untersuchungen ist nichts zu sehen. Ganz im Gegenteil. Die Beteiligten – unterwürfige Gesellen genauso wie herrschaftliche Meister – verdrehen und relativieren jedes hochrangige Verbrechen, werfen Schlamm und Kot auf jeden, der sich erdreistet, Betrug und Korruption eines internationalen Netzwerks sichtbar zu machen und bringen all jene zur Strecke, die eine Gefahr für die Freiheit der Obrigkeit darstellen.
Wenn es also beispielsweise heißt, dass nur „gewisse BBC-Verantwortliche unteren und mittleren Ranges vom Gebaren [!] des Fernsehstars Jimmy Savile gewusst“ hätten, dann können Sie davon ausgehen, dass das Gegenteil richtig ist. Die Liste all der hochrangigen Verbrechen, die unter den Teppich gekehrt werden, ist enorm – und niemand, der sich bemüßigt fühlen würde, dem Einhalt zu gebieten. Und wissen Sie warum? Weil der Einzelne in einer Abhängigkeit gefangen ist. Der Mensch ist tatsächlich weder für Freiheit noch für Wahrheit gemacht – nicht weil es die Natur, sondern ein von Menschenhand geschaffenes System so vorgesehen hat. Willkommen im Gulag der Illusionen.
Die neue Staffel der einst so populären X-Files/Akte X ist nun mit der Ausstrahlung der sechsten und letzten Folge (vorerst) abgeschlossen. Also, vom Hocker haben mich die „mysteriösen“ Verwicklungen, denen Scully und Mulder auf der Spur waren, nicht gerade. Falls Sie unbedarft an die neue Staffel herangehen wollen, so verzichten Sie besser darauf, weiterzulesen. Yep. Spoiler! Gleiches gilt für die britische TV-Serie Utopia, die ich Ihnen ans Herz legen möchte. Im Besonderen die erste Staffel und die erste Folge der zweiten Staffel. Beeindruckend, wie es die Drehbuchautoren verstanden, tatsächliche (politische) Ereignisse in die Filmwirklichkeit einfließen zu lassen.
Zugegeben, ich konnte mich nie wirklich für die Serie X-Files/Akte X erwärmen. Die Quintessenz wurde ja vortrefflichst in Episode 20 der 3. Staffel herausgelöst – wer es noch nicht gelesen hat, hier meine Gedanken dazu: Artikel. Die neue Staffel ist dagegen nur ein lauwarmer Aufguss. Auch wenn es für einen Verschwörungstheoretiker recht interessant beginnt, werden doch eine Reihe von Deep Events im Zeitraffer vorgetragen und mit einem geheimen Netzwerk (Cabal) hochrangiger Persönlichkeiten in Verbindung gebracht. Leider ging diese Überlegung und damit der Faden für die nächsten vier Folgen verloren und erst in der sechsten und letzten Folge wurde der Ball wieder ins Spiel gebracht. Doch die Aufdeckung des Endgame-Szenarios „wir reduzieren die Weltbevölkerung mit Hilfe einer herbeigeführten Immunschwäche“ durch Scully und Mulder wirkte äußerst aufgesetzt und fadenscheinig. Mit anderen Worten: enttäuschend hollywoodesk.
In eine ähnliche Endgame-Szenario-Kerbe, wenngleich bereits ein paar Jahre früher, schlägt die britische TV-Serie Utopia. Also, wie zuvor gesagt, die erste Staffel muss man gesehen haben (und natürlich die erste Folge der zweiten Staffel), um meine Begeisterung verstehen zu können. Es wird hier nicht nur jedes Verbrechen einer omnipotenten Organisation mit Verbindungen in die allerhöchsten Kreise von Politik und Industrie (Deep State) präzise dargestellt, sondern auch, wie diese Verbrechen der Öffentlichkeit präsentiert werden: So wird beispielsweise der blutige Amoklauf in einer Schule einem unschuldigen Teenager in die Schuhe geschoben (wie durch eine digitale Zauberhand ist er in den Überwachungsvideos als Täter auszumachen); es wird die Krankenakte eines „Selbstmörders“ kurzerhand mit dem Vermerk „Depression“ ergänzt; es wird eine Explosion mittels eines „Gaslecks“ erklärt; es wird für die Ermordung eines Politikers eine Terror-Gruppe verantwortlich gemacht, die wiederum Teil des Deep State-Geheimdienstes ist. Es gibt eine lange Liste an verbrecherischen Ereignissen – sei es beispielsweise die Erpressung von Politikern und Unternehmern oder die Konditionierung von Kindern oder die Diskreditierung eines unbequemen Wissenschaftlers – die in der TV-Serie abgehandelt werden und die sich an der Wirklichkeit da draußen orientieren.
Zu guter Letzt möchte ich noch eine wunderbare Dialogstelle herausstreichen, die der gewöhnliche Bürger nur für die Erfindung kreativer Schreiberlinge hält – und doch liegt darin vielleicht die Antwort auf die Frage, warum reale Politiker und Unternehmer und Medientycoons genau diese eine Richtung einschlagen, genau diese eine Entscheidung treffen und keine andere:
»Was glauben Sie, wie Sie an den Posten gekommen sind? Durch Talent oder Befähigung? Ihre sogenannte (politische bzw. unternehmerische) Karriere haben wir Ihnen verschafft! Das einzige Talent besteht darin, zu tun, was wir Ihnen sagen!«
Eine unbedingte Lese-Empfehlung, für alle jene, die wissen wollen, wie eine Schweizer Qualitätszeitung im Ukraine- und Syrien-Konflikt eine doch recht einseitige Kriegspropaganda betreibt. Sie können davon ausgehen, dass es eine ähnlich einseitige Berichterstattung auch in deutschen und österreichischen Qualitätsmedien gibt. Die Studie beginnt mit folgender Einleitung:
»Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) ist die führende Schweizer Tageszeitung für internationale Themen. Doch wie objektiv und kritisch berichtet die NZZ über geopolitische Konflikte? Um dies zu überprüfen, wurden während je eines Monats alle NZZ-Berichte zur Ukraine-Krise und zum Syrienkrieg analysiert und anhand des Modells von Professor Anne Morelli auf Muster von Kriegspropaganda hin ausgewertet.«
»Die Resultate sind eindeutig: Die NZZ verbreitet in ihren Berichten überwiegend Propaganda der Konfliktpartei USA/NATO. Gastkommentare und Meinungsbeiträge geben nahezu durchgehend die Sicht dieser Konfliktpartei wieder, während Propaganda ausschließlich auf der Gegenseite verortet wird. Die verwendeten Drittquellen sind unausgewogen und teilweise nicht überprüfbar. Insgesamt muss von einer einseitigen, selektiv-unkritischen und wenig objektiven Berichterstattung durch die NZZ gesprochen werden. Verschiedene Erklärungsversuche für diesen Befund werden diskutiert.«
Der Essay in der Beilage der linksalternativ-genossenschaftlich organisierten Berliner Tageszeitung TAZ mit dem Titel Grenzen abschaffen und laufenlassen ist an Naivität und Einfalt nicht mehr zu überbieten. Dass an diesem schlecht recherchierten und äußerst realitätsfremden Machwerk kein geringerer als Robert Menasse mitgewirkt hat, verblüfft und verblüfft auch wieder nicht, weil nun mal jedes Propagandawerk, soll es breite Wirkung erzielen, einen populären Namen vorzuweisen und ins Rennen zu schicken hat.
Der langatmige Artikel liest sich wie der Aufsatz einer 16-jährigen Streberin, die gut behütet im Villenviertel einer europäischen Metropole aufgewachsen ist und nun ein Privatinternat in der Schweiz besucht. Alles klingt so wunderbar, so romantisch, so weltoffen, so „die ganze Welt ist eine Familie“ – und die Fakten werden kurzerhand diesem Wunschbild angepasst. Erschreckend, dass solch ein irreführender Text veröffentlicht werden durfte – scheinbar gibt es in der ganzen TAZ-Redaktion keine Faktenchecker mehr.
„Denn Grenzenlosigkeit gab es in Europa die längste Zeit, vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.“
Ich frage mich, wie man so einen falschen Satz überhaupt nur andenken kann. Im Brockhaus von 1838 lesen wir beispielsweise unter dem Stichwort Fremde: »Gegenwärtig sind in Folge der politischen Untersuchungen und der vielen in Folge derselben unstät sich herumtreibenden Flüchtlinge in den meisten Staaten die Paßverordnungen (s. Paß) so streng gehandhabt worden, daß dadurch dem Aufenthalte und dem Reisen der Fremden große Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden.«
Natürlich waren die damaligen Grenzen weder exakt definiert noch lückenlos kontrolliert – jeder konnte für gewöhnlich ungehindert „einreisen“ – aber das heißt nicht, dass diese „Grenzenlosigkeit“ auch Reisefreiheit bedeutete. Denn früher oder später wurde der Fremde im Landesinneren nach seiner Legitimation gefragt. Und ob sich ein Fremder für eine geraume Weile oder für immer in der Fremde niederlassen durfte, hat mit Grenze und Grenzkontrollen nichts, aber auch gar nichts zu tun. Vergleichsweise könnte man behaupten, weil ein Privatgrundstück keine Umzäunung (Grenzkontrolle) aufweist, könne man dort sein Auto abstellen.
„Vor 1914 hat man kein Visum gebraucht, um mit der Droschke von Paris nach Moskau zu reisen“
Im Brockhaus von 1838 heißt es unter dem Stichwort Paß: »Im eignen Interesse sollte jeder, der die deutsche Grenze auf kürzere oder längere Zeit überschreitet, sich in den Besitz eines Reisepasses oder mindestens einer Paßkarte setzen. Im Grenzverkehr mit Rußland wird eine 28 Tage gültige Grenzkarte, sogen. Halbpaß, ausgestellt. Besonders streng ist die Paßkontrolle in Rußland, der Türkei und Portugal.«
Und dass Stefan Zweig nicht nur ein berühmter Schriftsteller seiner Zeit war, sondern auch Erbe eines großen Vermögens, haben die Autoren unter den Tisch fallen lassen. Es ist nun einmal so, dass Reichtum und Berühmtheit noch jede Grenze wie von Zauberhand geöffnet hat.
„Man musste [vor 1914] damals auch kein Geld wechseln – die Gulden nicht und nicht die Taler – oder wäre gar ins „europäische Ausland“ gereist, wenn man die Postkutsche von Wien nach Lemberg nahm und zwischendurch in Budapest haltmachte.“
Vielleicht ist den Autoren entgangen, dass Wien, Lemberg und Budapest vor 1918 allesamt zu einem Staatsgebiet gehörten, nämlich dem Kaiser- und Königreich Österreich-Ungarn. Somit waren diese Orte nur Provinzen eines großen staatlichen Wirtschaftsraumes – der mit 1919 natürlich verschwand.
„Das, was wir heute unter einem Pass verstehen, gibt es erst seit dem 21. Oktober 1920.“
Mag sein, dass es den Pass, so wir ihn heute verstehen, erst sei 1920 gibt. Fakt ist aber, dass Pässe, Paßports, Passbriefe, Paßkarten usw. eine gefühlte Ewigkeit in Verwendung waren und die auch nichts anderes gewesen sind, als »ein schriftliches, von der Polizeibehörde ausgestelltes Zeugniß für Reisende, womit dieselben sich an fremden Orten über ihre Person und den unverdächtigen Zweck ihrer Reise legitimiren können«. So steht es im Pierers Universal-Lexikon von 1861. Und diese Definition ist auch der springende Punkt bei alledem: Die Behörden im Zielland des Reisenden müssen sich sicher sein, dass dieser kein Halunke ist, der Böses im Schilde führt. Verzichtet man auf diese Legitimierung, dann sind all den Räubergesellen Tür und Tor geöffnet. Bevor man mir das Wort im Mund umdreht, sei festgehalten, dass ich damit nicht sagen möchte, dass alle Reisende Verbrecher seien, sondern dass es eine Möglichkeit geben muss, die schurkische Spreu vom rechtschaffenen Weizen zu trennen. Aber wer weiß, vielleicht ist diese Unterscheidung für die Autoren bereits diskriminierend.
„Tatsächlich ist im europäischen Diskurs schon früher die Ambition verloren gegangen, die EU als Projekt zu sehen, dessen Gründungsabsicht es war, Europa wieder zu europäisieren und die Nationalstaaten zu überwinden.“
Also, jetzt mal ehrlich, hätten Sie damals für die Aufnahme Österreichs in die EU mit „Ja“ gestimmt, wenn Sie gewusst hätten, dass es die Absicht gibt, Österreich als Nationalstaat „aufzulösen“? Glauben Sie, dass osteuropäischen Staaten, die sich ihre staatliche Souveränität gegen Ottomanen/Türken und Stalinisten blutig erkämpft haben, ihre Grenzen für die Illusion einer 16-jährigen Streberin aufgeben würden?
Sollte diese „Gründungsabsicht“ tatsächlich bestanden haben, so wage ich zu behaupten, dass man diese seinerzeit mit Absicht verheimlicht oder relativiert hatte. Vor Jahrzehnten war es demnach der Elite noch nicht möglich, über die „Überwindung der Nationalstaaten“ offen zu sprechen – heutzutage dürften die europäischen Bürger dafür bereits „reif“ genug sein. Ist es nicht schockierend, mit welcher Chuzpe die Elitisten nun beginnen, die „Festung“ Europa, die in Wirklichkeit aus all den souveränen Staatsburgen bestehen, sturmreif zu schießen, um sie „weltoffener“ zu machen? Weltoffen für wen? „[d]erzeit sind 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Misere“, geben uns die beiden Autoren die Antwort. Und sollten sich die Bürger dagegen wehren, sich verteidigen, nun, dann kommen wohl dunkle Zeiten auf sie zu – der Sturm einer eingeschlossenen und sich verteidigenden Stadt während des Dreißigjährigen Krieges hat an Gräuel alles zu bieten, was man sich gar nicht erst vorstellen mag. Stichwort: Magdeburgisieren. Im Brockhaus von 1839 lesen wir darüber:
„Der Kampf dauerte dabei noch in den Straßen der unglücklichen Stadt Magdeburg fort, welche drei Tage lang der grauenvollsten Verheerung durch Plünderung, Mord und Brand preisgegeben blieb, wovon der Sieger selbst an den Kaiser Ferdinand meldete: »Seit Trojas und Jerusalems Zerstörung ist keine solche Victoria gesehen worden.« Über 20.000 Einwohner jeden Standes, Alters und Geschlechts kamen dabei in den Flammen und unter allen erdenklichen Mishandlungen um, denen zu entgehen viele Jungfrauen den gemeinsamen Tod in der Elbe suchten; die wilden Soldaten zechten auf Leichenhaufen und nannten das die magdeburgische Hochzeit. Nur den Dom, eine andere Kirche und etwa 130 Häuser am Elbufer hatte der Brand verschont, und erst am vierten Tage wurden die etwa 4000 Menschen, welche sich in den Dom geflüchtet und eingeschlossen hatten, sowie die wenigen außerdem lebendig Gebliebenen ihres Daseins wieder sicher.“
Falls Sie sich also dann und wann mal fragen, wem daran gelegen sein könne, blühende Städte und ertragreiche Länder zu verwüsten und wehrhafte Bürger zu „entmannen“ – es gibt immer eine politisch-revolutionäre Gruppe, die von Befreiung und Gemeinwohl spricht, aber tatsächlich nur die Zerstörung und Vernichtung des Althergebrachten im Sinne hat – weil es dem Neuen und Revolutionären im Wege steht. Siehe diesbezüglich die Ausrottungsbestrebungen in der Vendée während der Französischen Revolution: »Der Befehl sieht vor, das aufständische Land in eine Einöde zu verwandeln: die Wälder abzubrennen, die Häuser in Brand zu setzen, das Vieh wegzutreiben, die Hecken abzuschneiden, die rebellische Region so zu behandeln, wie Ludwig XIV. mit der Pfalz verfahren war. Es handelt sich hier um eine Rhetorik der Ausrottung, die der Grausamkeit der Soldaten freie Hand gab und die einige Monate später zu einer grausigen Ernte organisierter Massaker führen sollte« [entn.: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution: Die Vendée von Francois Furet, S.269ff, 1996]
„Wie wäre es, wenn Flüchtlinge in Europa Bauland zugewiesen bekämen, benachbart zu den europäischen Städten, aber in einem Abstand, der die Andersartigkeit wahrt.“
Ehrlich, wer kommt auf so eine wahnwitzige Idee? Vielleicht erinnern sich die Autoren nicht mehr, dass sogenannte Enklaven über die Jahrhunderte immer wieder zu großen politischen oder gesellschaftlichen Problemen führten – spätestens dann, wenn die Region ihre Souveränität und damit Loslösung vom Nationalstaat forderte. Siehe Kosovo und Serbien, anno 1999. Natürlich kann man naiv hoffen, dass sich die Menschen hüben wie drüben als Brüder und Schwester in die Arme schließen werden – mit anderen Worten, dass Integration funktioniert. Aber wie wir wissen, gibt es nun mal integrationsunwillige Menschengruppen – sei es aus tief religiösen, sei es aus traditionellen Gründen. Die jüdische Minderheit in Venedig hatte beispielsweise niemals die Absicht, sich zu integrieren, vielmehr nahm sie mit einem ihr zugewiesenen Stadtviertel vorlieb, wo sie nach ihren eigenen Gesetzen und Gebräuchen leben konnte. Aber spätestens dann, wenn jüdische und christliche Bürger in Streit gerieten, musste Recht gesprochen werden, aber nach welchem und in welcher Sprache? Wie solche Streitigkeiten gelöst wurden, kann man beispielsweise bei Shakespeare nachlesen.
„Europa ist groß (und demnächst leer) genug, um ein Dutzend Städte und mehr für Neuankömmlinge aufzubauen.“
Seltsam. So ähnlich hörte es sich an, als all die weltoffenen Revolutionäre über Palästina sprachen. Das Ergebnis kann sich heute sehen lassen: Grenzkontrollen,Straßen-Checkpoints, Ausweispflicht, Grenzmauer, Apartheid und das größte Open-Air-Gefängnis der Welt. Warum Herr Menasse nicht nach Israel reist, um dort für die Abschaffung von Grenzen und die Überwindung des Nationalstaates zu plädieren, entschließt sich mir nicht, geht es doch nur um ein einziges Land, eine einzige Regierung, eine einzige Behörde. Wie schwer kann das schon sein, im Gegensatz zum Vielvölkergemisch Europa?
Der Artikel von Menasse und Guérot kann nur als propagandistische Auftragsarbeit verstanden werden. Und obwohl es sich im Großen wie im Ganzen um ein erbärmliches Machwerk handelt, wird es trotzdem weiteres Öl ins visionäre Feuer der weltoffenen Revolutionäre gießen. Vae victis.
Die letzten Tage ein wenig darüber nachgedacht, nach welchen Prinzipien die Gesellschaft erzogen, d.h. geformt wird. Ich sehe drei große Prinzipien, die alle ihre Vor- und Nachteile haben – für die ungebildete Masse genauso wie für die gebildete Elite – wobei es natürlich über die Jahrzehnte und Jahrhunderte Überschneidungen gibt. Beachten Sie, dass wir uns in Mitteleuropa längst vom väterlichen Prinzip verabschiedet (dahingehend brauchte es freilich furchtbare Bruder- und Bürgerkriege) und mit 1919 vollends das mütterliche Prinzip angenommen haben, das seit den 1970ern immer mehr zum letzten Prinzip, dem Laissez-faire, degeneriert. Für mein Dafürhalten wurde und wird diese gesellschaftliche Veränderung mit großer Absicht herbeigeführt.
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Das väterliche Erziehungsprinzip
Dieses patriarchalisch-germanische Modell steht für Ordnung und Rechtschaffenheit, für Fairness und damit Achtung der Sitten und des Friedens, sowie für die Unverletzlichkeit der „Mannheiligkeit“.
Der Freie oder „Freihals“ heißt so, weil er unter Rechtsschutz steht und daher auch nicht gehalten ist, seinen Nacken einem Eigentümer zu beugen. Deswegen ist die Freiheit „Freihalsigkeit“ oder – bei den Skandinaven – „Mannheiligkeit“. [S. 126*]
Das Prinzip steht natürlich auch für den Einsatz von Gewalt (um den Frieden bzw. die Sühne durchzusetzen) und für eine Vielzahl an Gesetzen, die jedes mögliche Vergehen ahnden: je nach Schwere des „Friedensbruchs“ entweder mit Wergeld oder mit „Friedlosigkeit“ des Freien, d.h., der „Friedensbrecher“ wird aus dem Rechtsverband ausgestoßen, sozusagen ge-ächtet, und sein Los ist das eines Flüchtigen). Da jeder Freie – genauso wie der König – gleichzeitig ein Friedensbewahrer bzw. Ordnungshüter ist, muss dieser auch in der Lage sein, das Recht mittels Waffengewalt und materiellem Vermögen durchzusetzen, weiters hat er seine Mündel (altgerm. Mund = Schutzgewalt – Ehefrau, Kinder, Knechte, Haussklaven und all jene Freie, die ihm den Treueeid geschworen haben) zu schützen.
Da jeder Freie mit Waffengewalt eine Herabsetzung bzw. Beschneidung seiner Freihalsigkeit zu verhindern versucht, kann es zu keiner diktatorischen Regierungsform kommen. Ein „König“ ist hier nicht als absoluter Herrscher zu verstehen, sondern vielmehr als oberster Beamte des „Volks“ bzw. der „Leute“, d. h., der Gemeinschaft aus Freien, die diesen erwählten oder akzeptierten.
Dieses matriarchalisch-sozialistische Modell steht für die gemeinschaftliche Fürsorge in einer Gesellschaft, die offiziell keine Rangstufen und keine vererbten Privilegien kennt. Jene, die den Frieden stören und das Gesetz brechen, werden nicht als Störenfriede behandelt, sondern als Opfer einer zurückliegenden gesellschaftlichen Vernachlässigung. Da nur noch die „Gemeinschaft“ – in Form von Funktionären und Kommissaren – als Friedensbewahrer bzw. Ordnungshüter auftritt und somit der Einzelne nicht mehr unter Rechtsschutz steht, ist dieser der Willkür des Rechts (und jener, die Recht sprechen) ausgesetzt und wird so – wie alle anderen Menschen – zum Mündel der Staatsgewalt (vgl. Wohlfahrtsausschuss in der Franz. Revolution). Wer sich diesem Prinzip widersetzt, wird mit gnadenloser Härte zu einem „fürsorglicheren“ Unter-tan erzogen – somit steht einer diktatorischen Regierungsform Tür und Tor offen.
Beispiele: das revolutionäre Frankreich von 1789; kommunistisch-bolschewistische Länder des 20. Jahrhunderts.
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Das kindliche Erziehungsprinzip
Dieses kindlich-liberalistische Modell steht für eine konsumfreudige und verantwortungslose Gesellschaft, die auf allen Ebenen durch durch korrupt ist. Ordnung und Rechtschaffenheit sind nur noch Worthülsen. Jeder hat so viel Recht wie er Macht hat. Der Materialismus hat das Tugendhafte abgelöst. Rechtsbrüche werden je nach Stand und Seilschaft des Täters nicht mehr geahndet. Die Unter-tanen sind nur noch die „Knechte“ der privilegierten Klasse, die mittels Brot und (digitaler) Spiele bzw. Zuckerbrot und Peitsche die Masse zum Arbeiten zwingt. Laissez-faire, »alles geht«, ist der Grundsatz dieses Prinzips – so lange du es dir leisten kannst.
Beispiel: Weströmisches Reich im 5. Jahrhundert; Paris und Berlin der 1920er Jahre; New York City mit Beginn des Finanzkapitalismus um 1890.
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*) Grundriss des Germanischen Rechts von Karl von Amira, Strassburg, 1913.
Siehe auch The Roman and the Teuton: A Series of Lectures von Charles Kingsley, University of Cambridge, 1864.