Ich war nun endlich in der Bibliothek des Wiener Rathauses und habe mir die dortige Ausstellung mit dem sprechenden Titel
»Wir wissen es, daß diese Beamtenschaft ihre Pflicht auch im neuen Wien tun wird« – Die Wiener Stadtverwaltung 1938.
angesehen. Die Ausstellung ist empfehlenswert, haben die guten Seelen der Wienbibliothek höchst sehenswerte Originalmaterialien aus dem Archiv „ausgegraben“, diese mit allerlei Anmerkungen versehen und eine chronologische sowie thematische Reihung vorgenommen. Einziger Wermutstropfen ist vielleicht die recht bescheidene Ausstellungsfläche und ich würde mir wünschen, dass hier vielleicht einmal das Wien Museum einspringt und Platz für eine geräumigere Präsentation mit zusätzlichem Material schafft.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich bis dato noch nie die Wienbibliothek aufgesucht hatte. Grund genug, mir diese deshalb mal zu Gemüte zu führen. In der guten alten Kartei der Handschriftensammlung – die es freilich auch digital gibt – habe ich doch tatsächlich Briefe von Dr. Josef Breuer (nicht zu verwechseln mit Rabbi Joseph Breuer) an die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach gefunden. Faszinierend, nicht? Ich denke darüber nach, mir den einen oder anderen Brief aus dem Jahr 1938 aushändigen zu lassen. Wäre es nicht spannend, zu lesen, was die Zeugen jener Zeit unter sich so gedacht und geschrieben haben? So ich deren Handschrift überhaupt noch entziffern kann.
Ursache und Wirkung? Henne und Ei!
Vielleicht setze ich mich jetzt in die Nesseln, wenn ich meine, dass die andere Seite der Medaille in all den gegenwärtigen historischen mosaikartigen Erinnerungsaufführungen oftmals nicht einmal ignoriert wird. Gewiss spielt bei alledem die Befürchtung eine große Rolle, dass Starrköpfe und Naivlinge Öl in die Hand bekommen, um ein politisches Feuer zu entfachen. Aber wie soll man bitteschön jungen Menschen diese Epoche näherbringen, wenn man immer nur eine Sichtweise präsentiert? Als ich in der Schule über das Jahr 1938 „aufgeklärt“ wurde, hieß es schlicht und einfach, dass die Österreicher in einen hypnotischen Bann(strahl) gerieten, aus dem sie erst 1945 befreit wurden. In meiner kindlichen Vorstellung sah ich hypnotisierte Leute wie sie mit glasigen Augen durch die Wiener Straßen und Gassen gingen, aber wirklich zufrieden war ich mit dieser „Erklärung“ freilich nicht. Später schlug das Pendel in die andere Richtung aus, plötzlich sollen die Österreicher allesamt, mit nur wenigen Ausnahmen, mit wehenden Fahnen ins deutsche Lager übergelaufen sein, wohl wissend, dass sie damit ihr Heimatland und die gute Gesinnung verrieten. Weniger gern beleuchtet wurde und wird der peinliche Umstand, dass Österreich von einer Diktatur in die andere wechselte. Demokratie wurde 1934 abgeschafft, wenn man so will. Ja, in den 1930er Jahren ging es in Europa politisch drunter und drüber. Warum eigentlich?
Weil der internationale Kommunismus, auch Bolschewismus genannt, beginnend 1919 von Moskau aus seinen gesellschaftlichen Eroberungsfeldzug nach Europa antrat und vor allem Deutschland im Auge hatte.* Gab es da nicht den Spartakusaufstand 1919 in Berlin? Und war Bayern nicht sogar 1919 für eine kurze Weile eine „rote“ Räterepublik? Dies musste unweigerlich eine ernsthafte Gegenreaktion all jener Bürger hervorbringen, die sich mit der sowjetischen Version eines Arbeiterparadieses nicht anfreunden wollten.
„Der sowjetische Terror war einer der Hauptgründe für die Popularität des Faschismus und Nazismus.“**
All das war die Neuauflage des Kampfes während der Französischen Revolution von 1789 mit anderen Mitteln. Auf der einen Seite die Jakobiner, die Anarchisten, die „Linken“ (weil sie sich gegen die katholische Kirche wandten) auf der anderen Seite die Monarchisten, die Liberalen, die Katholiken, die „Rechten“ (weil sie zur „Rechten Hand Gottes“ saßen – siehe Fire in the Minds of Men page 22). Es erinnert an den immerwährenden Streit zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Rousseau und Voltaire, zwischen Willkür und Ordnung.
Betrachtet man demnach das Jahr 1938 recht nüchtern in einem historischen Kontext, dann läuft man Gefahr, in eine Ecke gestellt zu werden. Aber jetzt Hand aufs Herz: Wie kann man eine Gegenreaktion überhaupt begreifen, wenn man sich nicht mit der Reaktion auseinandersetzen darf? Ist das wirklich die „aufgeklärte“ Art und Weise, wie wir Geschichte an nachfolgende Generationen weitergeben wollen? Immer Angst habend, dass unliebsame Fakten in die falschen Hände geraten könnten? Wie lange wollen wir noch zuwarten, bis wir offen und ehrlich über diese Epoche befinden dürfen, ohne Wenn und Aber? Oder trachten wir danach, Orwells Erinnerungslücke (memory hole) im Ministerium für Wahrheit bezüglich jener historischen Ereignisse einzuführen, die uns unangenehm scheinen?
Wehren wir besser den Anfängen.
Vergessen wir nicht, dass Fakten und Daten weder gut noch böse sind – es ist ausschließlich die Interpretation, die uns ein Bild des Damals und des Heute in hellen oder dunklen Farben zeichnet. Propaganda, vergessen wir auch das nicht, spielte und spielt hüben wie drüben bei alledem eine wesentliche Rolle. Apropos. Der Begriff Propaganda wurde nicht von einem deutschen Minister ins Leben geschrien, vielmehr war es ein gewisser Edward Bernays, der sich mit seinem Buch Propaganda (1929) in New York einen Namen machen sollte und mit einem nüchternen Blick konstatierte, dass die Masse aka Herde eine Führung bräuchte.
»Ours must be a leadership democracy administered by the intelligent minority who know how to regiment and guide the masses.«,
Bernays war übrigens der Doppelneffe von Sigmund Freud. Und hier schließt sich wieder der Kreis, schuf Dr. Josef Breuer doch die Grundlage für die Psychoanalyse, die sein Schützling Freud weltberühmt machen und seinen Doppelneffen in New York auf richtig zündende Ideen bringen sollte, die heutzutage das A und O der Werbebranche und der politischen Rattenfänger sind.
*) »In einer Rede am 22. Oktober 1918 hatte Lenin ausgeführt: „Das wichtigste Glied in dieser Kette (Weltrevolution) ist Deutschland . . . und von ihr (der deutschen Revolution) hängt der Erfolg der Weltrevolution ab.“«, schreibt Konrad Adenaur in seinen Memoiren
Erinnerungen 1945-1953 (Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1980, S. 95).
Friedrich Ebert, Sozialdemokrat und Reichspräsident der Weimarer Republik, bemerkte bereits 1919, dass „die Bolschewisten danach trachteten, den Staat zu übernehmen, dass ihre bevorzugte Methode dahingehend Gewalt war und dass ihr Ziel Deutschland war – jenem Land, das Lenin als kommunistischen Staat wünschte […]“, schreibt der amerikanische Militärhistoriker John Mosier in seinem Buch Cross of Iron: The Rise and Fall of the German War Machine 1918-1945 (Henry Holt, New York 2006 p. 28).
**) „The Soviet terror was one of the fundamental reasons for the popularity of fascism and nazism“, schreibt der französische Historiker Francois Furet n seinem Buch The Passing of an Illusion: The Idea of Communism in the Twentieth Century (Chicago, University of Chicago Press, 1999 – p. 162).
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