Zwei Bücher sind es, die in einer anderen Epoche geschrieben wurden und trotzdem aktuell auf den Leser wirken: Colin Ross, ein Wiener Reiseschriftsteller, der seine erste Weltreise noch vor dem Großen Krieg von 1914 unternahm, versuchte sich 1929 an eine Vision über die Zukunft Europas, deren globale Führungskraft – man denke an die vielen Kolonien – im Sinken begriffen war. Erich Kern, ein deutscher Journalist, bereiste Anfang der 1960er die Gebiete Indonesiens, das sich vom Joch der niederländischen Kolonialherrschaft befreien konnte und rollt auf wenigen Seiten die hochmütige Fremdherrschaft des Weißen Mannes über die Indonesier ab, die 350 Jahre dauern sollte. Beide Autoren erkennen auf ihren Reisen, dass sich die Beziehung zwischen den farbigen Untertanen und europäischen Oberherrn verändert hat. Die Ehrfurcht vor der weißen Rasse, die so übermächtig schien, wandelte sich langsam zu Ablehnung und Verachtung,
Springen wir ins Jahr 2022. Im Februar eröffnet Präsident Putin seine Militäroperation gegen die Ukraine. Für den Westen ist es ein Angriffskrieg, für den Osten ein Präventivschlag. Faites vos jeux, Mesdames et Messieurs. Über die Ursachen gäbe es viel zu schreiben, aber das ist freilich eine gänzlich andere Geschichte. Vielmehr geht es mir um die Frage, ob mit diesem Konflikt die bestehende Weltordnung auf den Kopf gestellt oder alles beim alten bleiben wird.
In beiden Büchern sind sich die Autoren einig, dass die Allmacht des „Weißen Mannes“ (lies: London und Washington) über kurz oder lang gebrochen werden würde. Tatsächlich hat sich nach 1945 eine Weltordnung herauskristallisiert, die von Abhängigkeit und Gewaltandrohung sprach. Zwar gab es schon bald keine Kolonialmächte mehr, aber jeder souveräner Staat, wollte es auf dem Weltmarkt Erfolg und im Inneren Ruhe haben, musste sich mit den „alten weißen Männern“ in Washington, London oder Moskau arrangieren. Mit anderen Worten, die Weltmächte verstanden es, die ehemaligen Kolonialländern, die nun ihre Freiheit erhielten, mit Zuckerbrot und Peitsche „bei der Stange“ zu halten. Bis in den späten 1980er Jahren schlug das Pendel einmal für die „Yankees„, einmal für die „Russkies“ – aber am Ende ging es dem „kapitalistischen“ Washington genauso wie dem „kommunistischen“ Moskau einzig darum, den Status Quo beizubehalten. Was leider unter den Tisch gekehrt wurde und wird, ist der Umstand, dass das Konstrukt der UdSSR von Beginn an ohne westlicher Hilfe nicht lebensfähig gewesen wäre. Washington und London benutzten die „rote Gefahr“ dahingehend, um ihre Agenden vorantreiben zu können.
Als das Konstrukt der UdSSR Ende der 1980er Schiffbruch erlitt und in den Fluten historischer Verfälschungen versank, gab es nur noch eine Weltmacht, nämlich die des Westens. Washington konnte ungestört alle Fäden ziehen und dank des „Anschlags“ vom 11. September 2001, einem „neuen Pearl Harbor“, ging die westliche Elite nun daran, jeden Widerstand mit Gewalt und Brutalität zu brechen. In Kolonialzeiten schickten die Briten ein Kanonenboot, um Aufwiegler ruhig zu stellen – nach 2001 waren und sind es Sanktionsdrohungen, die jede wirtschaftliche Entwicklung eines Landes hemmen konnten, war und ist der US-Dollar noch immer Leitwährung der Weltwirtschaft. Halfen keine Sanktionen, wurde die legitime Regierung kurzerhand gestürzt und mit pro-amerikanischen Günstlingen besetzt. Ging auch das nicht – siehe Syrien oder Libyen – dann finanzierte Washington heimlich einen blutigen Konflikt, um sich später als Friedensstifter in die inneren Angelegenheiten einmischen zu können. Präsident Bush Jr. brachte im November 2001 das Regulativ der neuen Weltordnung auf den folgenden springenden Punkt:
„You are either with us or against us!“
Zwanzig Jahre später, im Februar 2022, wirft Moskau der Elite in Washington und London den Fehdehandschuh ins Gesicht. Am Boden mag es um Territorien und Entwaffnung gehen, aber die alles entscheidende Schlacht wird am grünen Tisch geführt. Je nach Sieg oder Niederlage wird es die Weltordnung erheblich erschüttern und nichts wird mehr so sein wie es einmal war.
Jeder souveräne Staat auf dieser Welt wird vor die Wahl gestellt: mit Moskau und Peking eine Politik auf Augenhöhe zu führen und sich damit ins Fadenkreuz Washingtons und Londons zu begeben – oder weiterhin das westliche Herrschaftsprinzip von Zuckerbrot und Peitsche, das keine Regeln, nur Willkür kennt, zu akzeptieren.
Was wir gegenwärtig erleben, ist die Rebellion des größten „Koloniallandes“ gegenüber seinem Kolonialherrn. Die anderen „Provinzen“ beobachten sehr genau, was am Boden und am grünen Tisch geschieht. Alle warten sie zu. Entscheidet man sich nämlich zu früh, setzt man aufs falsche Pferd, kann dies schwerwiegende Konsequenzen für Land und Leute nach sich ziehen.
Aber eines steht bereits am Ende des Jahres 2022 fest: Es gibt kein Zurück mehr, weder für Washington noch für Moskau. Vielleicht mag man sich auf eine kurzfristige Ruhepause einigen – die doch nur dazu benutzt werden würde, aufzurüsten und seine Mitstreiter um sich zu scharen.
Ohne es bemerkt zu haben, steht die Welt und ihre Ordnung auf der Waage.