„Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, der lädt zu spätrömischer Dekadenz ein. […]
Es scheint in Deutschland nur noch Bezieher von Steuergeld zu geben, aber niemanden, der das alles erarbeitet. Empfänger sind in aller Munde, doch die, die alles bezahlen, finden kaum Beachtung.“
Gastkommentar in der Welt-Online
von Bundeskanzler-Stellvertreter Guido Westerwelle
entnommen: Artikel „Viel Staatsgeld, keine Transparenz“ der standard.at
Ich denke, jeder mündige Bürge sollten Herrn Westerwelle beim Wort nehmen und bei Politikern und den Parteifunktionären endlich jene Leistung einfordern, die wir erwarten dürfen. Immerhin werden wir dafür ordentlich zur Kasse gebeten, nicht? So nebenbei sei bemerkt, dass ein Politiker während seiner Karriere viele gute Kontakte im Wirtschafts- und Medienbereich knüpft, die er später, zurück in der Privatwirtschaft, weidlich ausnutzen kann. Somit verdient ein Politiker doppelt und dreifach und vierfach und zigfach. Des Weiteren ist eine Partei ein intransparenter Sumpf, einer Geheimgesellschaft nicht unähnlich, die hinter verschlossenen Türen weiß-der-Teufel-was aushecken. (okkulte Rituale, um Wähler zu verhexen?) Und kann uns Herr Westerwelle (und wie diese lackierten Politiker alle sonst noch heißen) bestätigen, dass jeder seiner Parteigünstlinge die geforderte Leistung erbringt? Wohl kaum.
Unter Bourgeoisie wird die Klasse der modernen Kapitalisten verstanden, die Besitzer der gesellschaftlichen Produktionsmittel sind und Lohnarbeit ausnutzen. Unter Proletariat die Klasse der modernen Lohnarbeiter, die, da sie keine eigenen Produktionsmittel besitzen, darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können. [Anmerkung von Engels zur englischen Ausgabe Marx‘ „Manifest“ von 1888.]
In der losgetretenen Diskussion geht es nur um eines: die Mittelschicht gegen das Prekariat aufhetzen (das Wort Proletariat ist bereits so negativ besetzt und ideologisch überfrachtet, dass man es in Diskussionen tunlichst vermeiden sollte, ansonsten läuft man Gefahr in ein link-isches Eck gestellt zu werden). Die „Bourgeoisie“, also jene Elite, die wirtschaftlich und politisch die Fäden zieht, muss dafür Sorge tragen, dass die Lohnarbeit so gering wie nur möglich entgeltet wird („Hungerlohn“: bedeutet, dass die erbrachte Arbeitsleistung nicht adäquat abgegolten wird; zum Beispiel bei stumpfsinnigen oder lebensgefährlichen oder verantwortungsvollen Jobs), um maximalen Profit zu erzielen.
Hungerlöhne können auf verschiedene Wege erreicht werden: zum einen, in dem auf Migranten zurückgegriffen wird, die wenig gebildet sind und nur eine zeitlich befristete Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung haben; diese können mit einer möglichen Ausweisung erpresst werden; da Migranten keinen gesellschaftlich anerkannten Status haben (dank der Massenmedien), wird ihre Ausbeutung vom Rest der Gesellschaft kaum wahrgenommen und insgeheim toleriert. Werden Migranten aber nach einer bestimmten Frist Staatsbürger, ist es für die Wirtschaft nicht mehr so einfach, diese auszunutzen. Einfacher ist es da natürlich mit illegalen Migranten. Diese sind leichter erpressbar, weil sie auf ihre Arbeit mehr als jeder andere angewiesen sind, und da sie weder medial noch politisch eine Rolle spielen, wird diese unmenschliche Vorgehensweise hinlänglich toleriert (man sehe sich an, wie viele illegale Migranten in Florida zur Orangen-Ernte eingesetzt werden). Gibt es aber noch immer zu wenige Arbeitskräfte, die für einen Hungerlohn arbeiten, muss ein System eingeführt werden, das Bürger regelrecht dazu zwingt. Arbeitslager und Gulags sind trotz ihres ökonomischen Vorteils (maximaler Profit) in einer deutschsprachigen Demokratie („man lerne aus der Geschichte!“) noch kein Thema. Also muss die Wirtschaftselite anderwertig Druck auf die unteren Gesellschaftsschichten ausüben. Dazu bedient man sich der Mittelschicht. Man schüre eine menschenunwürdige Stimmung („Sozialschmarotzer“, „Parasiten“), drohe mit Steuererhöhungen und Infrastrukturabgaben („Autobahnmaut?“), um nach einer Weile der Forderung der Mittelschicht nach Sozialabbau nachzukommen. Weil: Je geringer die soziale Hilfe, desto höher der „Anreiz“, jeden noch so minderwertigen Job für einen Hungerlohn anzunehmen. Die Wirtschaftselite kann sich gratulieren. Die Politiker sowieso. Alle sind zufrieden. Alle?
Durch die Finanzkrise 2008 und 2009 stellte die österreichische Regierungen österreichischen Banken etwa 100 Milliarden Euro zur Verfügung (wenn auch ein Teil „nur“ als Haftung für mögliche Ausfälle dient). Die Überlegung, jene Banken, die diese Hilfe in Anspruch nehmen, an die Leine („Staatsbeteiligung“) zu nehmen, wurde von Raiffeisen-Generalanwalt Christian Konrad mit den Worten „Nur über meine Leiche“ quittiert. Wir halten fest: die Regierung schüttet den Banken Steuergelder (meines, deines) aus, darf aber nicht darüber befinden, was die Banken damit anstellen (z.B. Managergehälter, Dividenden und Bonus-Zahlungen bestreiten). Während ein Arbeitsloser vom AMS vorgeladen wird, um Rechenschafft abzulegen, was er denn getan habe, um einen (minderwertigen) Job zu finden (in Deutschland scheint es sogar so weit zu sein, dass die Hartz-IV-Empfänger ihre Kontoauszüge vorweisen müssen, damit ersichtlich ist, dass sie nichts dazuverdienen). Wird hier nicht mit zweierlei Maß gemessen. Freilich, im einen Fall geht es gerade mal um 1.000 Euro, im anderen um das zig Millionenfache.
Eines gilt es ein für alle Mal festzuschreiben: der demokratische Staat wurde in erster Linie dazu geschaffen, um für das Wohl seiner (aller!) Bürger zu sorgen, nicht um kriegerische Auseinandersetzungen und wirtschaftlichen Größenwahn zu befördern. Wenn eine Regierung nur noch bestrebt ist, die Staatsausgaben zu reduzieren, andererseits es aber gesetzlich zulässt, dass eine kleine Gruppe an Wirtschaftskapitänen und multinationalen Unternehmen obszöne Profite einstreicht, die jedes menschliche Maß vergessen lassen, dann ist Handlungsbedarf gegeben. Oder, in den Worten von Herrn Westerwelle: „Empfänger sind in aller Munde, doch die, die alles bezahlen, finden kaum Beachtung.“
Ich finde, es wird Zeit, dass jene, die alles Bezahlen, also die Bürger dieses Landes, Beachtung finden.
[um die Doppelbödigkeit des Systems aufzuzeigen, muss man sich nur folgendes vor Augen führen: ich habe nun etwa zwei Stunden zugebracht, diesen Artikel zu recherchieren und zu verfassen. Mein Lohn dafür: 0,- Herr Westerwelle schreibt einen (bezahlten?) Kommentar in einer viel gelesenen Zeitung und erhält für das Verfassen dieser elitären Propaganda die „Arbeitszeit“ abgegolten. Wie soll ein mündiger Bürger, dem es im Normalfall an Zeit und/oder Geld fehlt, jemals gegen die (von ihm) gut bezahlte Obrigkeit, der es weder an Zeit, noch an den medialen Mitteln fehlt, ankämpfen können?]
Ich überlege, in „Brouillé“ ein Vorwort zu verfassen, dass die Thematik „Elite vs. Bürger“ aufgreift. Nein, dadurch kann ich weder etwas bewegen, noch bewirken. Aber da das Buch viele viele Jahre im Archiv der Nationalbibliothek zubringen wird, können spätere Generationen nicht über mich behaupten, ich hätte geschwiegen oder wäre zu dumm gewesen, nicht zu sehen, was da vor sich geht. Wenn ich mich schon mit der Französischen Revolution lang und breit beschäftige, dann sollte ich das Gelernte auch auf die gegenwärtigen Strukturen umlegen können, oder?