Deutschland : Italien 1:2
Na, das nenn ich mal ein ordentlich offensiv geführtes Fußballspiel. Mehr Spektakel als Sport. Welch Veränderung diese italienische Mannschaft erfuhr ist mit Worten kaum zu beschreiben und wenn ich diese Zeilen gerade niederschreibe, dann, hoppla, läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken. Das hat viele Gründe. Zum einen, dass der deutschen Nationalelf die Grenzen aufgezeigt wurden. Sie ist eine sehr gute Truppe, keine Frage und hätte es weit bringen können, die Gegnerschaft voraussetzend. England hätte sie mit absoluter Sicherheit zertrümmert. Den Portugiesen hätte sie einen Sieg abgekämpft. Vielleicht wäre Russland im Offensivspiel ebenbürtig gewesen, aber die individuelle Klasse spräche eindeutig für Germania. Es gibt also nicht viele Mannschaften in Europa, die eine junge Löw-Truppe nicht schon zum Frühstück verspeist hätte. Aber genau darin liegt auch wieder das Problem. Wenn du immer nur Spanien im Fokus hast und über all die anderen Gegner drüberfährst, dann kann sich die Mannschaft nicht weiterentwickeln. Nur wer entscheidende Spiele gegen gewichtige, vielleicht übermächtige Gegner, für sich entscheiden mag (das Wie spielt – leider, leider – heutzutage ja keine Rolle mehr), mag sich steigern. So war es 1955, als dieses germanische Fußballmärchen in der Schweiz zum ersten Mal erzählt wurde – dass dabei das zweite österreichische Wunderteam aus den Augen verloren wurde, ist eigentlich eine große Demütigung. Weil sie vermutlich die beste Mannschaft des Turniers war – in spielerischer Hinsicht. Und hier sind die Grundsteine für die Zukunft gelegt worden. Die Deutschen haben aus ihrem glücklichen Endsieg (sic!) einen ersten kleinen Mythos gemacht und diesen mit Opferbereitschaft, Kameradschaft und unbändigem Siegeswillen garniert. Die Österreicher – mit hängenden Köpfen – haben ebenfalls ihren Mythos erschaffen: »des wird nie was, aber is eh wurscht!«Von da an ging es eigentlich mit dem österreichischen Fußball – auf internationaler Ebene – lange bergab, während die deutsche Nationalmannschaft sich stetig steigerte – immer im Bewusstsein 1955 das Unmögliche wahr gemacht zu haben. Wir sehen: Fußball wird vorrangig im Kopf und in der Brust entschieden. Aber das wissen Sie ja schon längst, nicht?
Aus dramaturgischer Sicht wäre es vielleicht besser gewesen, die Löw-Truppe hätte im Halbfinale – endlich, endlich – die Tiki-Taka-Spanier eliminiert und wäre dann im Finale auf Italien gestoßen. Ja, das wäre ein würdiges Finale gewesen. Weil beide Mannschaften gewillt waren, offensiv zu spielen, weil beide Mannschaften den Zug zum gegnerischen Tor suchten. Aber wenn wir beide Systeme vergleichen, die der Deutschen, die der Italiener, dann sehe ich wundersame Unterschiede. Es scheint mir, als würde Trainer Prandelli sich gedacht haben: Okay, für das neue Spielsystem fehlen mir die Ausnahmespieler, also krame ich in der Mottenkiste und hole ein System hervor, das schon ein wenig antiquiert wirkt. Aber es wirkt(e). Und wie!
Allen voran merkte Prandelli, dass er im Sturm ausgezeichnete Leute hatte, die es einzusetzen galt. Schlag nach bei den Holländern! Dort saß der Torschützenkönig der deutschen Bundesliga – Hunterlaar – nur auf der Ersatzbank. Für ihn war kein Platz im Spielsystem, das im großen und ganzen so gut wie alle Mannschaften praktizieren: Vorne ein Solo-Stürmer, dahinter ein breites Mittelfeld – je nach Courage mit offensiv ausgerichteten FlügelMITTELFELDspielern. Nicht zu verwechseln mit Flügelstürmern, die defensiv keine Aufgaben hätten. Aber das geht heutzutage nicht mehr. Jeder muss »nach hinten arbeiten«, wie es schön heißt. Damit kommt aber auch kein Druck nach vorne zustande und die Abwehrspieler – zumeist zwei oder drei Recken – haben keine Probleme, die Solo-Spitze zu entschärfen. Das bedeutet wiederum, dass du laufstarke Flügelspieler brauchst. Am besten zwei auf jeder Seite. Einmal im Mittelfeld. Einmal in der Flügelverteidigung. Aber daran scheitern die meisten Mannschaften. Solche laufstarken Spieler, die defensiv wie offensiv in der Lage sind, ein Spiel zu lesen, gibt es nicht wie Sand am Meer. An der Seite zu spielen ist viel anspruchsvoller als es vielleicht aussehen mag. Es ist schon seltsam, aber das System – nennen wir es 4 Verteidiger – 2 Abräumer im Mittelfeld – 3 Mittelfeldspieler – 1 Sturmspitze – ist gar nicht so einfach zu praktizieren. Als die Niederländer dieses System zur Perfektion brachten, hatten sie auch den dafür notwendigen Kader zur Verfügung (dunkel erinnere ich mich, wie ein van Bronkhorst, als Außenverteidiger, einen Sprint über das halbe Feld hinlegte, um eine gefährliche Spielsituation einzuleiten). Überhaupt kommt den Außenverteidigern eine zentrale Rolle zu. Hier hat Deutschland mit Lahm auf der linken Position natürlich ihren Heilsbringer. Aber auf der rechten Seite, tja, da muss ein gewisser Boateng die Lücke füllen. Hätte Löw va banque gespielt, hätte er Mut zum Risiko gehabt, er hätte längst einen Offensivspieler an dieser Position »angelernt«. Denn, jedem Trainer hinters Ohren geschrieben: du musst dich entscheiden! Entweder stellst du hier einen Offensiv-Spieler rein – mit der Gefahr, auf der Seite überrannt zu werden – oder du ziehst die Option, einen geschulten Innenverteidiger (wie Boateng) auf die Seite zu stellen – mit der Gefahr, dass nach vorne kaum Gefährliches zustande kommt.
Der italienische Trainer Pirandelli hat aus der Not eine Tugend gemacht und sieht die Stärke seiner Spieler vorrangig im Zentrum angesiedelt. Und damit kommen all jene Mannschaften, die ihr Hauptaugenmerk auf die Seiten gelegt haben, ziemlich ins Schwitzen. Spanien hingegen machte eine absolute Kehrtwendung und verzichteten gleich mal auf eine mittelmäßige Sturmspitze. Während also Italien auf zwei Sturmspitzen setzt, lässt Spanien erst gar keine auflaufen. Tja. Das ist Fußball im Jahr 2012.
Zurück zum gestrigen Spiel. Es hätte natürlich ganz anders kommen können. Wie viele Fans der deutschen Nationalelf werden sich die Haare raufen, ob der ersten Minuten, als Pirlo (schon wieder dieser Pirlo!), einer der dienstältesten des Turniers, den Ball auf der Linie abwehrte. Oder als Buffon, ja, der ganz große Buffon, einen Schuss nicht bändigen kann, den Ball nach vorne abprallen lässt, wo dieser wiederum auf einen italienischen Spieler trifft und von da zurück in Richtung Tor. Nicht ins Tor, aber so knapp daneben, dass sicherlich schon viele Zuschauer aufgesprungen sind. Ja, da hätte also bereits vieles entschieden sein können. Und es sah danach aus, als würde Italien nicht ins Spiel finden, als würde die deutsche Nationalelf wie ein D-Zug nicht zu bremsen sein. Aber so gut und druckvoll sie auch spielten, es fehlte an der Klasse, an der Routine, an der Abgebrühtheit. Man merkte ihr junges Gehabe und manchmal, da spürte man, dass ihre Ruhe und Sicherheit vielleicht doch nur (gut) gespielt war. Wie könnte es auch anders sein? Mit jugendlichem Elan kannst du (noch) kein Epos schreiben, nur kurze Erzählungen und Novellen.
Die italienische Nationalelf wirkte in der Defensive unsicher. Eigentlich standen sie in fast allen Spielen in der Defensive unsicher. Hin und wieder wirkte es unbeholfen, ja, dann und wann glaubte ich Schülerliga-Niveau zu erkennen. Andererseits, der Erfolg, wie man so schön sagt, gibt ihnen recht. Ei, wie es mich freut, dass endlich einmal ein neuer Wind in die verstaubten Gemäuer der Fußball-Systeme weht. Sollte Italien schlussendlich die Europameisterschaft gewinnen, dann werden wir über kurz oder lang herrlichere Zeiten entgegensehen. Vielleicht erinnern sich die Trainer, dass sie einmal in einem System spielten, dass auf Tore schießen ausgelegt war, nicht auf Tore vermeiden. Dahingehend muss man sich nur vor Augen führen, wie Italien, obwohl schon zwei Tore in Führung, noch immer den Weg nach vorne suchte. Damit kannst du jeder gegnerischen Mannschaft den Nerv ziehen. Weil mit jedem Pass, mit jeder Flanke die Gefahr erwächst, dass du in einen Konter läufst. Überhaupt, das Konter-Spielen mit nur einer Sturmspitze – die auch defensiv aushelfen muss – ist ja geradezu lächerlich. Anders dagegen, wenn zwei Stoßstürmer auf einer Linie in der vordersten Reihe auf ihre Chance warten. Als Innenverteidiger muss dir da ordentlich mulmig werden. Weil du dich nicht mehr auf deinen Nebenmann verlassen kannst, da dieser ja den zweiten Stürmer im Auge behalten muss. Und damit sind Unstimmigkeiten vorprogrammiert.
Balotelli? Als ich gesehen habe, was der gute Balotelli an Chancen gegen die Engländer vergab, da wollte ich schon Di Natale an seiner Stelle wissen. Ja, man ist schnell und hart in seinen Entscheidungen. Seltsam, dass Di Natale das Tor gegen Spanien (im Gruppenspiel) machte, während Balotelli kläglich scheiterte und gestern, da war es Di Natale, der mustergültig eine Hundertprozentige daneben setzte. Wäre an dieser Stelle das dritte Tor gefallen, die deutsche Seele hätte ein Trauma erlitten. Aber ein knappes 2:1 ist akzeptabel (später liest man nur das Ergebnis und denkt sich seinen Teil). Also Balotelli! Was für ein Tor. Man muss es gesehen haben, um es zu glauben. Als er alleine auf Torhüter Neuer zulief – der kleine Lahm hechelte hinterher – und eine Granate ins Kreuzeck donnerte (120 km/h), dass einem Hören und Sehen verging. Und da riss er sich das Trikot vom Leib und stand da. Wie ein in Bronze gegossener Gladiator, der einen Löwen mit bloßen Händen erwürgte und den blutdürstenden Zuschauern signalisiert: Mich bekommt ihr nicht klein! Allein dafür, jeder deutsche Fan verzeihe es mir, hätte ich ihm, wäre ich Jupiter, den Sieg geschenkt.
Und nun? Spanien gegen Italien. Immerhin, in der Gruppenphase haben die Italiener den Spaniern bereits ein Unentschieden abgetrotzt. Aber wie mental Stärker sind die Italiener jetzt! Während die Spanier mühsamst einen Sieg gegen Portugal einfuhren, ihre Überlegenheit nicht mehr so zwingend ist, strotzen die Gladiatoren aus Rom vor Zuversicht, Selbstvertrauen und Mut. Sie wittern Blut. Und ich gehe davon aus, dass wir auch Blut sehen werden. Für Italien und der Elf steht alles auf dem Spiel. Biegen oder brechen! Die Spanier hingegen, diese hässlichen Primaballerinas des Fußballs, werden versuchen, tanzend den Schlägen und Hieben auszuweichen. Es wird grausam! Entweder wird der Tiki-Taka-Mythos endgültig ad acta gelegt und ein neues Zeitalter bricht heran – oder wir versinken wieder in die taktische Fußballhölle, wo Defensive Trumpf und Offensive ein Nice-to-have ist. Sì! Es werden also Gladiatoren sein, die um die Freiheit des Fußballs kämpfen. Wie passend, eh?