
Gedanken zum Viertelfinale 3 der Europameisterschaft in Frankreich 2016
DEUTSCHLAND : ITALIEN 1:1 6:5 n. E.
Das Elfmeterschießen – 18 Mal musste der Ball auf den Punkt gelegt werden – ging wohl für alle Beteiligten an die Grenze der nervlichen Belastbarkeit. Gerade die sonst so unerschütterlichen und nervenstarken Deutschen zeigten sich nicht nur im Elfmeterkrimi, sondern bereits davor, in den 120 Spielminuten, verunsichert. Der Respekt vor Italien, das noch im Freundschaftsspiel Ende März d. J. mit 4:1 vom Platz geschossen wurde, war nach deren fulminantem Sieg gegen Spanien recht groß. So groß, dass Trainer Löw von der gewohnten 4-5-1-Aufstellung abging und es mit der 3-5-2-Formation versuchte. Im Interview, nach dem Ende des Spiels, begründete er diese Umstellung als Gegenmaßnahme italienischer Offensivbewegungen. Scheinbar hatte Löw das spanische Fiasko analysiert und kam zum Schluss, dass man diese italienische Mannschaft nur mit ihren eigenen Waffen schlagen könne: In der Abwehr massiert stehen, dem Gegner wenig Raum geben und bei Ballgewinn schnell in die Offensive umschalten. Kurz und gut: Der amtierende Weltmeister mutierte von einer offensiven Ballbesitz-Kombinationsfußball- zu einer defensiven Kontermannschaft. Und weil Italien genausowenig das offensive Spiel machen wollte, gab es in den 120 Minuten nicht allzu viele Torchancen zu beklatschen. Ein müder Kick, wenn man so will, der an Polen : Portugal erinnerte. So kam der Führungs- und Ausgleichstreffer mehr zufällig und glücklich zustande. Auf der einen Seite fälschte Bonucci einen Querpass im Strafraum so unglücklich ab, dass Özil den Ball nur noch ins Tor spitzeln musste. Auf der anderen Seite übte sich der sonst so fehlerlose Boateng im eigenen Strafraum in einer Aerobic-Übung, streckte dabei seine beiden Hände in die Höhe und behinderte so einen Flankenball – Ergebnis: Piff! Elfmeter! Ausgleich!
Und so kam, was kommen musste, wenn keine Mannschaft die Entscheidung am Feld sucht: Elfmeterschießen. Es kann einen schon recht nachdenklich stimmen, dass ausgerechnet die verlässlichsten Schützen der deutschen Nationalmannschaft – Müller, Özil und Schweinsteiger – vom Punkt versagten. Auf italienischer Seite wird sich Conte in den Allerwertesten beißen, dass er noch knapp vor Abpfiff der Verlängerung Stürmer Zaza für Verteidiger Chiellini einwechselte, im Glauben, besagter Zaza würde seinen Elfmeter ohne Probleme verwandeln. Tja. Zaza schoss den Ball in den dritten Rang. Hätte er getroffen, es gäbe jetzt ein italienisches Sommermärchen.
Das Spiel hat jedenfalls gezeigt, dass der amtierende Weltmeister keine unbesiegbare Ballbesitz-Maschine ist, die ihre in Ehrfurcht erstarrten Gegner zu Tode kombiniert – vor allem dann nicht, wenn Trainer Löw seinen Spielern ein neues taktisches Kleid aufzwingt. Apropos. Erinnert es nicht an (einen verzweifelten) Marcel Koller, der im letzten Spiel gegen Island ebenfalls mit der 3-5-2-Formation das Unmögliche möglich machen wollte? Theoretisch hätte es den Deutschen wie den Österreichern ergehen können, wäre Italien – wie auch immer – in Führung gegangen. Aber der Erfolg gibt einem Trainer im Nachhinein natürlich immer recht – weil am Ende niemand weiß, ob die Deutschen jetzt wegen oder trotz dieser Umstellung ins Halbfinale eingezogen sind. Unbestreitbar ist jedoch der Umstand, dass Trainer Löw verunsichert wirkte und dass diese Verunsicherung auch auf die Spieler übergegangen sein dürfte – der Nimbus der spielerischen Unbesiegbarkeit verpuffte jedenfalls im Nervenkrimi von Bordeaux.