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Denkverbote #4: Social Engineering

Denkverbote-4

Auf meinem Tisch liegt das Taschenbuch Die Reise von Bernward Vesper (1938-71), welches posthum im Jahr 1977 erschien und ein „bestürztes Interesse“ auslöste „wie kein anderes deutsches Buch dieses Jahrzehnts“ (Spiegel). Der Autor, Sohn des völkischen Dichters Will Vesper (1882-1962), Vater eines Sohnes und Ehemann Gudrun Ensslins, die sich der damaligen Terrororganisation RAF anschließen sollte, schreibt sich förmlich die Seele aus dem Leib. Die Gedankenströme fließen. Persönlichste Innenansichten wechseln mit politischen Weltanschauungen. Mal in Zeitlupe. Mal in Zeitraffer. Zugegeben, ich habe erst ein paar Seiten dieses Mammutwerks gelesen, aber der Sog, den die Zeilen entwickeln, ist bereits spürbar. Vorausgesetzt, man möchte mehr erfahren. Von der damaligen Welt, die in Ost und West eingeteilt war. Vom damaligen Leben. Vom damaligen Aktionismus. Vom Terror der Terroristen. Von den Ansichten der jungen Menschen. Ihren Schuldgefühlen. Ihren Hass gegenüber einer älteren Generation. Ihren Interpretationen bezüglich vergangener und gegenwärtiger Geschehnisse. Bernward Vesper tritt, wenn man so will, als unbestechlicher, zuweilen widersprüchlicher Zeuge in den Zeugenstand.

»[…] auf jeden Fall wollte ich endlich mal auspacken, abrechnen, es den Leuten zeigen, ‚Schonungslose Autobiographie etc.‘. Ich erinnere mich auch genau, daß ich ‚einflechten‘ wollte, ich wäre ein ’notorischer Lügner‘ usw.«

Im Nervenkrankenhaus Haar bei München schied er 1971 schließlich freiwillig aus dem Leben, ohne sein Werk abzuschließen. Sechs Jahre später folgt ihm seine Ehefrau Gudrun Ensslin in den Tod. Selbstmord. Im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim.

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Über den Verlust der Schönheit und die seelische Abstumpfung

Hillman_youtube

Bevor heute Abend die Europameisterschaft in die Endphase geht, noch schnell ein paar Zeilen über die Gedanken des US-Psychologen James Hillman (1926-2011). Auf youtube können Sie eine Vielzahl an Vorträgen, Interviews und Gespräche abrufen. Sie werden erstaunt sein, was Sie da zu hören bekommen.

Für Hillman war der Mensch in erster Linie ein politisches Lebewesen – Aristoteles prägte seinerzeit den Begriff Zoon politikon. Mit anderen Worten, der Mensch ist aktiver Teil der Gemeinschaft, hat Anteil an den äußeren Umständen und – dies ist der springende Punkt – leidet an der gesellschaftlichen Dysfunktion. Die Psychotherapie, so Hillman, würde sich nur auf die innere Befindlichkeit des Patienten konzentrieren und dabei äußere Zustände außer Acht lassen. Hilmann wollte den Menschen aus seiner Realitätsverweigerung aufrütteln, ihn von der seelischen Abstumpfung (psychic numbing) befreien und ihn empfindlicher gegenüber Dysfunktionen machen.

Sehen Sie, würden wir ein politisches Lebewesen sein, das ein ausgeprägtes ästhetisches Empfinden hätte, würden wir beispielsweise all die Architekten, Städteplaner, Geldgeber und Eigentümer (genauso eine Vielzahl moderner Künstler) mit nassen Fetzen aus ihren Villen in die Gosse prügeln. Sehen Sie sich um. Nichtssagende Mietshäuser reihen sich an seelenlose Bürotürme. Schauen Sie sich den Sozialbau der 1920er und 1930er Jahre an und vergleichen Sie sie mit jenen der 1950er bis heute. Der kalte Ekelschauder läuft einem dabei den Rücken hinunter. Und keiner, der auch nur mit der Schulter zuckt. Weil Funktion vor Schönheit und Ästhetik gestellt wurde und wird. Aber darf man sich dann wundern, wenn wir keine freien Menschen, sondern nur noch funktionierende Lebenserhalter haben, die sich mit allerlei künstlichen Mitteln der unschönen und unästhetischen Welt zu entziehen versuchen? Warum blicken all die Leutchen auf ihre Smartphones und flüchten in virtuelle Welten, wenn sie unterwegs sind? Weil sie nicht sehen wollen, wie hässlich die Stadt um sie herum geworden ist. Instinktiv spüren sie, dass die Außenwelt aus den Fugen geraten ist – aber da wir uns nicht mehr als politisches Lebewesen verstehen, welches Einfluss nehmen und so das Fehlerhafte korrigieren kann, stecken wir unsere Köpfe in den Sand.

Die Demokratie hat uns ironischerweise weniger politisch gemacht, weil sich der Bürger zum Wähler degradieren hat lassen und der Zusammenhalt der Gemeinschaft durch die Ich-Bezogenheit aufgeweicht wurde und wird. All diese gesellschaftlichen und weltlichen und politischen Auswüchse beeinflussen unsere Psyche und machen uns krank. Aber je mehr wir unser Hauptaugenmerk nach innen richten – im Glauben, auf diese Weise zu gesunden -, um so mehr vernachlässigen wir die politische Welt, die uns krank macht (›The more we internalise, the more we neglect the political world‹)

More to come!

 

 

 

Ein merkwürdiges Gefühl: Die Umzugsdepression in der mütterlichen Welt

Alles Gute kommt von oben.
Alles Gute kommt von oben. Es kommt nur auf den Spin an.

Vielleicht kennen Sie auch dieses merkwürdige Gefühl, seine nähere Umgebung nicht mehr verstehen zu können. Beispielsweise fahren Sie mit dem Autobus von A nach B und dann mit der U-Bahn von C nach D und meinen, ausgeschlossen, ja förmlich ausgegrenzt, zu sein. Das Fremdartige der Szenerien löst ein Gefühl der Unsicherheit aus – gleichzeitig jedoch versuchen Sie dieses unangenehme Gefühl mit vernünftigen Argumenten zu vertreiben. Gewiss, an Argumenten fehlt es nicht, aber am Ende der Reise ist man trotzdem ein Zerrissener. Hin- und hergeworfen zwischen dem inneren Erlebnis und einer äußeren Erkenntnis, die aufgezwungen wirkt.

Wäre mir nicht durch Zufall das Buch des Psychoanalytikers Horst-Eberhard Richter (1923-2011) in die Hände gefallen, ich wäre noch heute ein Zerrissener, verzweifelt nach einer Antwort suchend, warum mein Inneres sich dem Diktat der Vernunft nicht unterwerfen möchte. Und sollten Sie vielleicht ähnlich mit sich ringen, könnte ich mir vorstellen, dass Sie nun endlich zur Ruhe kommen werden. An­ti­de­pres­si­vum kann ich Ihnen aber keines verschreiben.

Die Psychiatrie kennt eine Form von Depression, die durch einen banalen Umzug ausgelöst wird und spricht in diesem Fall von einer „Umzugsdespression“. Hierbei handelt es sich um eine Verunsicherung durch ein Isolierungserlebnis, die bei manchen Personen eben das extreme Ausmaß einer regelrechten depressiven Verstimmung annimmt: Jemand verzieht in eine ihm bis dahin völlig unbekannte Gegegend, in der alles anders ist als in seiner bisherigen Wohnwelt. Die Häuser sind anders, die Menschen sprechen möglicherweise einen fremden Dialekt und benehmen sich in ungewohnter Weise. Man vermißt plötzlich eine Fülle von bekannten Leuten, Gegenständen, Geräuschen, Gerüchen, von denen man bisher umgeben war. […] Alle Einzelheiten der ehemaligen Umgebung hatten zusammen so etwas wie eine mütterliche Welt gebildet, in der man sich geschützt gewußt hatte. Das Gefühl der Sicherheit war einer Art Dialog entsprungen, den man kontinuierlich mit den belebten und unbelebten Objekten der heimatlichen Szenerie geführt hatte. Diese Verläßlichkeit und Berechenbarkeit der äußeren Welt hatte geholfen, daß man sich auch selbst stabil und verläßlich fühlen konnte. […] und gleitet in eine längere Periode von Niedergeschlagenheit und Lethargie hinein, ehe man sich am neuen Platz zurechtfinden kann. Andeutungsweise zeigen nicht wenige Menschen ähnliche scheinbar paradoxe Reaktionen im Verlauf einer Urlaubsreise in ein ihnen bislang unvertrautes Feriengebiet.

Flüchten oder Standhalten
Prof. Dr. med. Dr. phil. Horst E. Richter
damaliger Direktor des Zentrums für
Psychosomatische Medizin an der Uni Gießen
Rowohlt TB Verlag 1985, S. 45f.
Originalausgabe 1978

Social Media, Facebook und die gesellschaftlichen Folgen

Ganz schön blurry.

Wenn Sie sich den Bildschirm-Schnappschuss ansehen, werden Sie vermutlich feststellen, dass der Inhalt ziemlich verschwommen ist. Sie müssen sich aber keine Sorgen machen, ihr Augenlicht ist noch immer so gut wie eh und je. Ich möchte nur zeigen, dass eine »sozial-mediale« Überforderung zu Schwindel, Unschärfe und anderen unangenehmen Befindlichkeiten führt. Seit Herbst des letzten Jahres habe ich meine Social Media Aktivitäten so gut wie eingestellt. Ich wollte ein Buch schreiben. Ich habe ein Buch geschrieben. Ja, jede kreative Tätigkeit braucht ein gewisses Maß an Abgeschiedenheit, geistiger Ruhe und sozialer Ordnung – wir können davon ausgehen, dass diese in facebook und anderen sozialen Netzwerken nicht gegeben ist. Warum? Weil die Plattformen so konzipiert sind, damit der größtmögliche kommunikative Verkehr zwischen den Teilnehmern stattfindet, was zur Folge hat, dass der Mensch negativ gestresst wird, weil er dem kommunikativem Verkehr natürlich folgen und daran teilnehmen/teilhaben will, aber es physiologisch nicht möglich ist. Kurz: man möchte auf vielen Hochzeiten tanzen – und die virtuelle Gleichzeitigkeit im Web scheint es möglich zu machen (nur um später festzustellen, dass es keine Gleichzeitigkeit geben kann – wir verringern nur die Zeitspanne zwischen dem einen und dem nächsten Ereignis). Social Media, es steht zu befürchten, macht die Teilnehmer nicht gesünder, nicht glücklicher – eher ist das Gegenteil der Fall.

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