Vor drei Jahren war es, als mich diese so unangenehme Nachricht erreichte, die das Ende einer Ära einläutete. Man könnte sagen, ich wurde recht unsanft aus einer wohligen Träumerei gerissen. Jeder, der schon einmal aus dem Schlaf hochgeschreckt ist, weiß um den Schockzustand: Der Herzschlag erhöht, der Puls unregelmäßig, der Atem flach und das Bewusstsein orientierungslos. Man versucht herauszufinden, ob das Leben ein Traum oder der Traum das Leben ist. Es braucht eine Weile bis man wieder zur Besinnung kommt. Das Gehirn erkennt endlich die reale Welt und löst sich vom Traum. Endgültig. Es bleibt freilich nichts anderes übrig. Wenn die Götter den Hobel ansetzen, dann ist man nur noch blinder Passagier auf einem kleinen Boot, das von Wellen und Sturmböen hin- und hergeworfen wird. Man hält sich fest und hofft, dass diese wütende Wetterkapriole nicht von langer Dauer sein wird. Man hört die Beschwichtigungen – hatte man nicht schon schlimmere Stürme überstanden? – und rechnet mit dem Schlimmsten.
In den nachfolgenden Wochen bin ich hie und da, wenn es Zeit und Umstände erlaubten, hierher, in den Augarten, saß im Vorgarten eines Cafés, trank Espresso ohne Milch und Zucker und blickte zum alten Flakturm. Ich schrieb Tagebuch, versuchte die Innenwelt aufs Papier zu bringen. Es ist eine Form von Therapie und ich kann es nur jedermann und jederfrau empfehlen. Der Flakturm, dieses Mahnmal aus Beton und Stahl, erzählte mir von einer längst vergangenen Zeit. Das beruhigte mein aufgewühltes Ich, wenn ich seinen Geschichten lauschen durfte.
Ruinen, steinerne Überbleibsel längst vergangener Epochen, haben mich schon immer fasziniert. Wie haben die Leute damals gelebt, was haben sie erlebt und was wissen wir von deren Vergangenheit? Überlieferungen in schriftlicher Form haben uns selten erreicht. Aber der Mensch will sich nicht damit zufrieden geben und denkt sich Geschichten aus die uns das Schöne und Schreckliche des Daseins vor Augen führen sollen. Die Historie ist mehr Fiktion denn Fakt. Niemandem ist es gegeben einen göttlichen Blick auf vergangene Ereignisse zu werfen. Wir sehen immer nur rätselhafte Schatten an einer Höhlenwand. Wir interpretieren. Wir stellen Vermutungen an. Schreiben diese in der gegenwärtigen Schattensprache nieder. Nachfolgende Generationen werden diese festgehaltenen Interpretationen und Vermutungen aufs Neue interpretieren. Und so geht es munter weiter. Ohne es zu bemerken, drehen wir uns im Kreis und kommen der Wahrheit nicht näher. Wir vertrauen den Menschen, vertrauen darauf, dass sie wahr und falsch unterscheiden können. Aber wie können sie? Jede Generation ist ein Produkt ihrer Zeit. Eine „Lüge“, die alle glauben, ist „Wahrheit“ und eine „Wahrheit“, die niemand glaubt, eine „Lüge“.
Steht die Erde im Mittelpunkt aller Welten oder ist sie nur der kleinste gemeinsame Nenner in einem unendlich scheinenden leeren Raum, genannt Kosmos? Ist unser Dasein völlig unbedeutend? Ist das Leben nur das zufällige Produkt einer chemischen Reaktion in der Ursuppe? Gewiss, wer sich näher mit der Theorie der Evolution beschäftigt (siehe beispielsweise Dr. James Tour!), erkennt, dass das Leben nicht aus einem biochemischen Unfall entstehen hätte können – auch wenn die wissenschaftliche Mainstream-Meinung genau das Gegenteil behauptet und daran mit allen Mitteln festhält. Was wäre die Alternative? Einwirkung von Außen! Unvorstellbar für all jene, die in der Wissenschaft ihre neue Religion sehen. Dabei suchte der Mensch schon immer Antworten bei seinen Propheten. Damals wie heute. Die Suche nach Antworten ist gleich geblieben, nur die Propheten sind andere.
Aber die alles entscheidende Frage, nur diese eine, ist, wie aus NICHTS ETWAS entstehen hat können. Unser Gehirn ist nicht in der Lage, diesen Sachverhalt zu erklären. Es übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Kurz und gut, wie sollen wir uns NICHTS denken, wie es uns vorstellen? Mag ein Teilchen noch so klein sein, es ist ETWAS. Aber wie konnte NICHTS „existieren“? Die Wissenschaft zuckt nur mit der Schulter. Der Urknall ist der Anfang. Punktum. Was sich hinter dem sich ausdehnenden Universum befände, meinte einst mein Physikprofessor, könne er nicht beantworten und wir sollten diesbezüglich besser unseren Religionslehrer fragen. Die Wissenschaft stößt an Grenzen, je tiefer und weiter sie blickt. Beobachtungen verändern das Beobachtende. Niemand kann mit Sicherheit sagen, dass sich Teilchen genauso verhalten, wenn sie nicht beobachtet werden.
Wie immer man es auch drehen und wenden mag, das Unvorstellbare ist nun mal nicht vorstellbar. In unserem linearen Denken gibt es immer Anfang und Ende. In meiner Sciencefiction-Komödie Rotkäppchen 2069 habe ich mich über all das lustig gemacht – ohne es gewollt zu haben. Der Instinkt, die Intuition – ist sie nicht göttlich, also nicht von dieser Welt? – hat mich auf den Weg geschickt. Das Endresultat war ein Taschenbuch. Absurd. Witzig. Und vielleicht wahr.
Die Schriftstellerei hat mich gelehrt, dass es mehr gibt, als unsere Schulweisheit uns glauben machen möchte. Ich nenne die Inspiration, die göttliche Einwirkung, die niemand versteht, einfach Musenkuss. Seit meinem Erstlingswerk Azadeh glaube ich an das göttliche Prinzip, ohne genau zu wissen, was es bedeutet. Ähnlich verhält es sich mit dem Dao. Niemand kann das Dao erklären, weil es das Dao nicht gibt. Was es gibt ist ein Wort, ein Begriff, aber dieser Begriff ist nicht das Dao. Deshalb tendiere ich zum göttlichen Prinzip im Gegensatz zum Gottbegriff. Das göttliche Prinzip schließt alle Religionen und Religionsphilosophien ein, es trennt nicht, es entzweit nicht. Es ist.
Die gedankliche Reise ist nun zu Ende. Aber in jedem Ende steckt ein Anfang und in jedem Anfang ein Ende. So ist das.