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Die Seele ist ein weiter Kosmos

Vor drei Jahren war es, als mich diese so unangenehme Nachricht erreichte, die das Ende einer Ära einläutete. Man könnte sagen, ich wurde recht unsanft aus einer wohligen Träumerei gerissen. Jeder, der schon einmal aus dem Schlaf hochgeschreckt ist, weiß um den Schockzustand: Der Herzschlag erhöht, der Puls unregelmäßig, der Atem flach und das Bewusstsein orientierungslos. Man versucht herauszufinden, ob das Leben ein Traum oder der Traum das Leben ist. Es braucht eine Weile bis man wieder zur Besinnung kommt. Das Gehirn erkennt endlich die reale Welt und löst sich vom Traum. Endgültig. Es bleibt freilich nichts anderes übrig. Wenn die Götter den Hobel ansetzen, dann ist man nur noch blinder Passagier auf einem kleinen Boot, das von Wellen und Sturmböen hin- und hergeworfen wird. Man hält sich fest und hofft, dass diese wütende Wetterkapriole nicht von langer Dauer sein wird. Man hört die Beschwichtigungen – hatte man nicht schon schlimmere Stürme überstanden? – und rechnet mit dem Schlimmsten.

In den nachfolgenden Wochen bin ich hie und da, wenn es Zeit und Umstände erlaubten, hierher, in den Augarten, saß im Vorgarten eines Cafés, trank Espresso ohne Milch und Zucker und blickte zum alten Flakturm. Ich schrieb Tagebuch, versuchte die Innenwelt aufs Papier zu bringen. Es ist eine Form von Therapie und ich kann es nur jedermann und jederfrau empfehlen. Der Flakturm, dieses Mahnmal aus Beton und Stahl, erzählte mir von einer längst vergangenen Zeit. Das beruhigte mein aufgewühltes Ich, wenn ich seinen Geschichten lauschen durfte.

Ruinen, steinerne Überbleibsel längst vergangener Epochen, haben mich schon immer fasziniert. Wie haben die Leute damals gelebt, was haben sie erlebt und was wissen wir von deren Vergangenheit? Überlieferungen in schriftlicher Form haben uns selten erreicht. Aber der Mensch will sich nicht damit zufrieden geben und denkt sich Geschichten aus die uns das Schöne und Schreckliche des Daseins vor Augen führen sollen. Die Historie ist mehr Fiktion denn Fakt. Niemandem ist es gegeben einen göttlichen Blick auf vergangene Ereignisse zu werfen. Wir sehen immer nur rätselhafte Schatten an einer Höhlenwand. Wir interpretieren. Wir stellen Vermutungen an. Schreiben diese in der gegenwärtigen Schattensprache nieder. Nachfolgende Generationen werden diese festgehaltenen Interpretationen und Vermutungen aufs Neue interpretieren. Und so geht es munter weiter. Ohne es zu bemerken, drehen wir uns im Kreis und kommen der Wahrheit nicht näher. Wir vertrauen den Menschen, vertrauen darauf, dass sie wahr und falsch unterscheiden können. Aber wie können sie? Jede Generation ist ein Produkt ihrer Zeit. Eine „Lüge“, die alle glauben, ist „Wahrheit“ und eine „Wahrheit“, die niemand glaubt, eine „Lüge“.

Steht die Erde im Mittelpunkt aller Welten oder ist sie nur der kleinste gemeinsame Nenner in einem unendlich scheinenden leeren Raum, genannt Kosmos? Ist unser Dasein völlig unbedeutend? Ist das Leben nur das zufällige Produkt einer chemischen Reaktion in der Ursuppe? Gewiss, wer sich näher mit der Theorie der Evolution beschäftigt (siehe beispielsweise Dr. James Tour!), erkennt, dass das Leben nicht aus einem biochemischen Unfall entstehen hätte können – auch wenn die wissenschaftliche Mainstream-Meinung genau das Gegenteil behauptet und daran mit allen Mitteln festhält. Was wäre die Alternative? Einwirkung von Außen! Unvorstellbar für all jene, die in der Wissenschaft ihre neue Religion sehen. Dabei suchte der Mensch schon immer Antworten bei seinen Propheten. Damals wie heute. Die Suche nach Antworten ist gleich geblieben, nur die Propheten sind andere.

Aber die alles entscheidende Frage, nur diese eine, ist, wie aus NICHTS ETWAS entstehen hat können. Unser Gehirn ist nicht in der Lage, diesen Sachverhalt zu erklären. Es übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Kurz und gut, wie sollen wir uns NICHTS denken, wie es uns vorstellen? Mag ein Teilchen noch so klein sein, es ist ETWAS. Aber wie konnte NICHTS „existieren“? Die Wissenschaft zuckt nur mit der Schulter. Der Urknall ist der Anfang. Punktum. Was sich hinter dem sich ausdehnenden Universum befände, meinte einst mein Physikprofessor, könne er nicht beantworten und wir sollten diesbezüglich besser unseren Religionslehrer fragen. Die Wissenschaft stößt an Grenzen, je tiefer und weiter sie blickt. Beobachtungen verändern das Beobachtende. Niemand kann mit Sicherheit sagen, dass sich Teilchen genauso verhalten, wenn sie nicht beobachtet werden.

Wie immer man es auch drehen und wenden mag, das Unvorstellbare ist nun mal nicht vorstellbar. In unserem linearen Denken gibt es immer Anfang und Ende. In meiner Sciencefiction-Komödie Rotkäppchen 2069 habe ich mich über all das lustig gemacht – ohne es gewollt zu haben. Der Instinkt, die Intuition – ist sie nicht göttlich, also nicht von dieser Welt? – hat mich auf den Weg geschickt. Das Endresultat war ein Taschenbuch. Absurd. Witzig. Und vielleicht wahr.

Die Schriftstellerei hat mich gelehrt, dass es mehr gibt, als unsere Schulweisheit uns glauben machen möchte. Ich nenne die Inspiration, die göttliche Einwirkung, die niemand versteht, einfach Musenkuss. Seit meinem Erstlingswerk Azadeh glaube ich an das göttliche Prinzip, ohne genau zu wissen, was es bedeutet. Ähnlich verhält es sich mit dem Dao. Niemand kann das Dao erklären, weil es das Dao nicht gibt. Was es gibt ist ein Wort, ein Begriff, aber dieser Begriff ist nicht das Dao. Deshalb tendiere ich zum göttlichen Prinzip im Gegensatz zum Gottbegriff. Das göttliche Prinzip schließt alle Religionen und Religionsphilosophien ein, es trennt nicht, es entzweit nicht. Es ist.

Die gedankliche Reise ist nun zu Ende. Aber in jedem Ende steckt ein Anfang und in jedem Anfang ein Ende. So ist das.

Was Sie über moderne Kunst wissen sollten

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Was ist der Unterschied zwischen einem laienhaften Gekritzel der Gegenwart und einem genialen Kunstwerk der Postmoderne? Etwa 10.000 Euro.

Moderne Kunst oder Gegenwartskunst ist ein Betrug an der Menschheit. Es ist erstaunlich, dass die breite Masse diesen bösen Schwindel schulterzuckend akzeptiert und den unbekleideten Kaiser nicht sehen will. All die skrupellosen Kaufleute lachen sich ins Fäustchen, ob dieses Scams, dieses Cons.

Wie funktioniert dieser Betrug, werden Sie jetzt vielleicht fragen. Ganz einfach. Sehen Sie sich die obige Grafik an. Ich habe Sie gescribbelt, sozusagen nebenbei aufs Papier gekritzelt. Nichts Besonderes. Und nun stellen Sie sich vor, ich würde Leute kennen, die wiederum einflussreiche Leute am Kunstmarkt kennen, die wiederum wichtige Leute in den Medienhäusern kennen. Die einen „kaufen“ nun von mir diese Kritzeleien um „viel Geld“ und die anderen schreiben in erstaunten, aber zustimmenden Tönen darüber. Der gewöhnliche Bürger, der meint, nichts von moderner Kunst zu verstehen, glaubt, was ihm gesagt wird. Wenn es Sammler gibt, die bereit sind, viel Geld für diese Kritzeleien auszugeben, so ist das bekanntlich deren Privatsache. Theoretisch ja. Praktisch nein. Weil früher oder später, nach all der „Kauflust“ der „Sammler“, nach all dem Medienhype, kommen nun die Kuratoren ins Spiel. Sie sollen im „Auftrag der Allgemeinheit“ moderne Gegenwartskunst in (vom Staate bzw. von Unternehmen) geförderten Einrichtungen der Öffentlichkeit präsentieren. In diesem Fall würden meine Zeichnungen zum „Marktpreis“ von den Museen bzw. Organisatoren erstanden werden müssen. Hier wird echtes und richtiges Geld gemacht.

Alternativ könnte man leicht beeinflussbare Sammler (Neureiche), die nicht in the loop sind und natürlich nicht zur Clique gehören, so lange um den Bart streichen, bis sie ganze Serien von mir bzw. den Galeristen ankaufen. Um gutes Geld, versteht sich.

Wahre Kunst hat immer etwas mit dem Göttlichen zu tun. Der Betrachter, der Leser, der Zuhörer, ja, wir alle spüren es. Alles andere ist nur ein teuflisches Gift, das die Seele in uns zu zersetzen sucht.

Zwei empfehlenswerte Vorträge in englischer Sprache:

Why is Modern Art so Bad? by Robert Florczak (youtube)

Modern art insults me! by Lindybeige (youtube)

 

 

 

343 Stufen den Wiener Stephansdom hinauf und wieder hinunter

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Manchmal verschlägt es mich am Morgen zum Wiener Stephansplatz. Dann bleibt nichts anderes übrig als im Schanigarten einer Wiener Kaffeehauskette einen Verlängerten zu schlürfen und dazu eine Topfengolatsche zu verputzen. Wenn man Glück hat, ergattert man ein Plätzchen mit Sicht auf den Steffl. Herz, was willst du mehr? Gegen 10 Uhr wird es dann freilich ein wenig unangenehm, weil Touristenschwärme summen und zirpen. Aber bis dahin hat man wohl schon in sein Tagebuch gekritzelt und ist bereit, für neue Abenteuer. Und weil ich noch nie den Südturm bestiegen habe, dachte ich mir, dass es nun an der Zeit sei. Gesagt, getan.

Für €4,50 darf man nicht nur 343 Stufen hinauf- und hinuntersteigen, sondern erhält als Bonus einen beachtlichen Drehwurm. Als ich gerade die ersten Stufen nehmen wollte, kam mir ein asiatisches Touristenpärchen entgegen – beiden waren ziemlich gezeichnet vom Abstieg. Die junge Frau schien mir in einer besseren Verfassung zu sein als der junge Mann, der scheinbar dem Hergott dankte, wieder zu ebener Erd gehen zu können. Ja, die enge Wendeltreppe ist kein Zuckerschlecken, da büßt man schon ordentlich Kalorien ein. Der „Gegenverkehr“ gestaltete sich aber nicht so schlimm wie anfänglich befürchtet – der eine drückt sich an die Mauer, der andere schiebt sich vorbei. Easy.

Das Glocken- und das Turmzimmer sind schon die Anstrengung wert. Mit dem Aufzug kann ja heutzutage jeder fahren. Aber 343 Stufen zu erklimmen, das hat schon durchaus etwas Gottergebenes. Vergessen wir nicht, dass bereits vor über einem halben Jahrtausend hier Menschen auf- und abgelaufen sind. Später sollte hier die Pummerin (türkische Kanonen!) bis 1945 ihren Platz finden – kaum zu glauben, wie man diese 20 Tonnen schwere Glocke damals durch halb Wien bewegen und in rund 60 Meter Höhe befestigen konnte. In den Nachtstunden hat der Turmwächter im Turmzimmer nach einem möglichen Feuer Ausschau gehalten und gegebenenfalls Alarm geschlagen. Ja, Feuer war seit jeher die größte Gefahr in einer von Wehranlagen eingegrenzten und dicht an dicht gebauten mittelalterlichen Stadt. The Great Fire of London, im Jahr 1666, zeigt, wie schnell ganze Häuserzeilen in Schutt und Asche übergehen können – im Tagebuch von Samuel Pepys ist dieses Großfeuer in aller emotionaler Deutlichkeit beschrieben.

Ja, manchmal braucht es ein Feuer. Ein inneres, versteht sich. Dieses innere Feuer – ist es göttlicher Natur? – wird am Ende all die bösen und dunklen Gedanken verbrennen, die einen plagen. Gerade in einer Zeit, in der man an einer Weggabelung steht, braucht es 343 Stufen und einen Drehwurm, um zu verstehen, worum es im Leben wirklich geht. Bedenken wir, dass der Stephansdom, in all seiner Größe, in all seiner Detailverliebtheit, vor über 500 Jahren Stein für Stein gebaut wurde. Unglaublich, dünkt es einen. Und doch hat der Mensch dieses unglaubliche Werk vollbracht. Daran soll man ermessen, wozu der Mensch – so er gemeinsam mit Gleichgesinnten an der Zukunft schmiedet – fähig ist. Ja, das sollte wir niemals vergessen.

Gedanken zu Peter Roseggers Roman ›Weltgift‹

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Jürgen Schutz vom Septime Verlag reichte mir das neu aufgelegte Rosegger-Buch Weltgift (1903) mit den Worten: »Das könnte dich interessieren, ist sozialkritisch.« Nun gut, dachte ich mir, wenn er es mir ans Herz legt, der mutige Verleger, dann schau ich mir das an. Gesagt, gelesen.

Ich habe mich jetzt nicht extra schlau über Autor Rosegger, dem Waldbauernbub goes Schriftsteller (1843-1918), gemacht, weiß nur, dass es da einen dunklen Fleck in seiner Vita gibt, dem ich gerne nachspüren möchte. Aber wie so oft, braucht jedes Forschen seine rechte Zeit und die ist wohl noch nicht gekommen. Nichtsdestotrotz könnte Weltgift ein erster Schritt in diese Richtung sein, gewissermaßen der Anstoß.

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Das Trauma eines Anschlags oder Die merkwürdige Gefühllosigkeit des Betrachters

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Seltsam, dass mir gestern Abend wieder einmal dieses unangenehme Thema zu Herzen ging. Hin und wieder – zu meist nach einem weiteren Anschlag in Europa oder den Vereinigten Staaten – bemerke ich, wie Medienkonsumenten publizierte Bilder und Videoclips des Ereignisses für bare Münzen nehmen. Sie sind der festen Überzeugung, etwas Authentisches, Echtes, Reales gesehen und gehört zu haben. Woher Sie den Unterschied kennen, zwischen Echtem und Unechtem, bleibt schleierhaft. Niemand, der für gewöhnlich solch traumatische Szenen mit eigenen Augen gesehen, mit seinem eigenen Körper erspürt hat. Würde man ihnen Ausschnitte aus dem Film Blair Witch Project zeigen, würden sie überhaupt erkennen können, dass es sich bei den gezeigten Bildern nur um die low budget Produktion eines Filmstudios handelte?

Der kritiklose Bürger akzeptiert das ihm Gesagte, das ihm Gezeigte. Er hinterfragt nicht. Er nimmt es at face value, weist skeptische Einwände zurück und schlägt Widersprüche in den Wind. Woher kommt diese Leichtgläubigkeit? Erinnert all das nicht an Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider? Wenn ›alle‹ das prachtvolle Kleid des Kaisers sehen, dann muss es doch existent sein, nicht wahr? Oder möchten Sie am Ende behaupten, der Kaiser würde sich tatsächlich nackt dem Volke zeigen? Diese Verschwörungstheorie ist grotesk, geradezu lächerlich. Wir sind demnach in einer Epoche angelangt, in dem die Mehrzahl der Bürger der westlichen Gesellschaft nicht mehr zwischen Echtem und Unechtem unterscheiden wollen. Zukünftige Generationen werden deshalb in eine Welt geboren, die sich – medial betrachtet – künstlich anfühlt. Junge Menschen werden keinen Unterschied mehr machen können, zwischen verordneten und erlebten Gefühlsausbrüchen. Diese Bilder, wird ihnen eindringlich gesagt, sollen Trauer und Mitleid auslösen – und jene Entsetzen und Angst. Mit jeder medialen Berichterstattung über ein weiteres ›traumatisches‹ Ereignis werden die jungen Menschen konditioniert, sozusagen wie der Pawlowsche Hund, abgerichtet. Auf ein bestimmtes in Szene gesetztes filmisches Konstrukt hin – für gewöhnlich sind die Bilder verwackelt, unscharf und von kurzer Dauer – soll der Bürger jeglichen kritischen Gedanken fallen lassen und den Behörden uneingeschränkte Machtbefugnisse zugestehen; nebenbei darf er in Trauer und Agonie die Opfer beweinen, sich mit ihnen solidarisieren, aber niemals dürfe er auch nur daran denken, über den medial-behördlichen Tellerrand zu sehen.

Noch hat der aufgeklärte skeptische Bürger die Möglichkeit, sich mit der Faktenlage vergangener und gegenwärtiger Events vertraut zu machen. Im Web kann jeder eine Vielzahl an Zeugenaussagen finden – seien sie Opfer, seien sie Helfer, seien sie zufällige Bystanders – mal mit, mal ohne Kamera. Man ist erstaunt, was man da zu hören – und vor allem nicht zu hören – bekommt. Beispielsweise sei an dieser Stelle das einstündige Interview einer jungen und hübschen Australierin erwähnt, die im Pariser Bataclan Event mit einer AK 47 in den Allerwertesten geschossen wurde. Eine Woche war gerade einmal vergangen, da sitzt sie bereits strahlend im Studio und lächelt verschämt über ihre Verwundung. Wahrlich, könnte man zur Ansicht gelangen, vielleicht sollte jeder solch eine traumatische Prüfung am eigenen Leib erfahren, um gestärkt und optimistisch in die Zukunft blicken zu können.

Wenn wir uns mit echtem Leid, echten Verwundungen, echten Menschen, echten Kämpfen, echten Kugeln, echten Todesfällen, echten Verlusten auseinandersetzen, bekommen wir einen ganz anderen Eindruck. Gefühle können weder die Beteiligten noch die Unbeteiligten aus dem Nichts erschaffen. Der Mensch erkennt im Gesicht, in der Haltung, in der Aura seines Gegenübers wahre Trauer, wahren Schmerz, wahres Leid, wahren Schock. Noch sind wir nicht gänzlich abgestumpft, noch sind wir empathisch genug, um zwischen Schauspielerei und echtem Leben zu unterscheiden. Aber je öfter wir der Schauspielerei im echten Leben ausgesetzt sind, umso öfter verschwimmen auch für uns die Grenzen. Deshalb ist es wichtig, wirklich wichtig, dass wir uns mit dem Authentischen befassen – so unangenehm und abstoßend es auch sein mag. Es führt kein Weg vorbei, leider. Weil Behörden und Medien alles daransetzen, und ich meine wirklich alles, um Sie und mich in einer Illusionsblase gefangen zu halten. Ein gutes Gegenmittel gegen diese Einlullung ist beispielsweise die gut gestaltete interaktive Webseite über das Attentat auf dem Oktoberfest von 1980 des Bayrischen Rundfunks. Leider sind einige der Videos nicht mehr abspielbar, trotzdem geben all die Clips, Bilder, Interviews und Dokumente einen guten Eindruck, was geschieht, wenn das Unvorstellbare blutige, sehr blutige Realität wird. Die Folgen sind Chaos, Ungläubigkeit, Wahnsinn, Schock, Apathie, Verzweiflung, Hysterie, Scham, Angst, Furcht, Leere, Schmerz, Hilflosigkeit, Stress, Ungewissheit, Ahnungslosigkeit, Ratlosigkeit, Ruhelosigkeit, Sinnestaumel, Gehörsturz, Taubheitsgefühle in Glieder und Seele, Kopflosigkeit und vieles mehr. Mit Sicherheit ist allen Beteiligten – seien sie Opfer oder Zeugen – das so einschneidende Erlebnis im Gesicht, in den Augen, in der Haltung abzulesen; wir spüren es (noch) instinktiv.

Gut. Kommen wir nun zum Punkt. Ich zitiere hier Stimmen, die wissen, was es heißt, wenn Menschen in einen blutigen Konflikt geraten und wie es ihnen dabei ergangen ist.

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»Es gibt kein Ding wie ›sich an den Kampf gewöhnen‹ … Jeder Moment eines Kampfes verursacht eine so große Belastung, dass Männer – in Relation von Intensität und Dauer – zusammenbrechen. Psychische Verletzungen sind im Kriegsfall genauso unvermeidlich wie Schuss- und Splitterwunden …« [meine Übersetzung:] There is no such things as ‚getting used to combat‘ … Each moment of combat imposes a strain so great that men will break down in direct relation to the intensity and duration of their exposure … psychiatric casualities are as inevitable as gunshot and shrapnel wounds in warfare … S. 329, The Face of Battle, John Keegan

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» … ist fünf Minuten einer Schlacht verrichten die Organe im Körper des Soldaten die Arbeit von 24 Stunden. Bean, Australiens offizieller Historiker, beobachtete dass ›die Überlebenden, auch noch nach einem Tag Ruhe, ausgesehen haben, als würden sie in der Hölle gewesen sein. So gut wie ohne Ausnahme sah jeder Mann ausgezehrt und todmüde aus und wirkte so benommen, dass man meinte, die Männer würden schlafwandeln und ihre Augen waren glasig und leer. … Sie waren wie Jungs, die nach einer langen Krankheit ihr Bett verließen.« [meine Übersetzung:] … in five minutes of battle, the physical organs performed the work of twenty-four hours. Bean, Australia’s official historian, observed that »the survivors, even after a day’s rest, looked like men who had been in hell. Almost without exception, each man look drawn and haggard  and so dazed that the men appeared  to be walking in a dream and their eyes looked glassy and starey. … They were like boys emerging from a long illness« S. 186f., Death’s Men: Soldiers of the Great War, Denis Winter

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»Ich liege wie versteinert. Jeder Pulsschlag schwemmt eine neue Welle Todesangst in meine vom Übermaß gereizten Sinne. Ich habe einmal Dantes ›Divina Commedia‹ gelesen. Wie konnte er das Grauen der tiefsten Hölle beschreiben, wenn er dies hier nie erlebte?! [S. 45f.] Dem Bordmechaniker muß das zerschossene Bein heute doch amputiert werden. Er war die ganze Nacht vor Schmerzen nicht mehr recht bei Sinnen und wollte immerzu aufstehen. Sie haben ihn eben aus dem Operationssaal wieder hergebracht. Er liegt mit offenen Augen in dem Bett drüben an der Wand und spricht kein Wort. Ich spüre, wie er sich innerlich quält. Ich würde ihm gern helfen, aber welche Trostworte nützen in einer solchen Lage? [S.35]  Drüben an der Wand liegt einer mit einem schweren Bauchschuß. Er stirbt langsam und ich muß immer wieder zu ihm hinschauen. Mit großen, angsterfüllten Augen schaut er immerzu in der Runde umher, fassungslos. Er kann nicht begreifen, daß er nun sterben soll. Sein stummer Blick scheint uns alle zu fragen, was seine Schuld wohl sei, daß es gerade mit ihm jetzt zu Ende geht. Er ist zu einem lebenden Skelett abgemagert; aber was die Schwester ihm auch zu essen reicht, er würgt und bricht es wieder heraus. Einmal sehe ich, wie er die Hand der Schwester ergreift und fest umklammert hält. Mit seinem todtraurigen Blick fleht er sie wortlos an, ihm doch zu helfen, daß er nicht sterben müsse. Aber es gibt ja keine Hilfe mehr.« S. 47f., Besiegt und Befreit, Gert Naumann

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»Im Kasemattblock verursacht der Durchschlag einen gewaltigen Luftstoß, der die Türen aufreißt und alles durcheinanderwirbelt. Da gleichzeitig die Lampen verlöschen, entsteht eine heillose Verwirrung. Flüche, Schreie, Hilferufe gellen durch die Finsternis, Taschenlampen zucken auf, jemand schreit fortwährend: „Sanität! Sanität!“ Tragbahren werden vorbeigeschleppt, die ratlos Umherstehenden kommen erst zur Besinnung, als einer den Einfall hat, die Alarmglocke zu läuten. Der Drill ist so groß, daß dieses Signal das Chaos überwindet … Nun flammt das Licht wieder auf. Aus dem Verbindungstunnel zum Batteriegang quillt schwarzer Rauch, auf dem Boden liegen ohnmächtig gewordene Kameraden. Trappelnde, schleifende Schritte sind zu hören, Sanitäter mit Rauchmasken kommen aus dem verqualmten Loch. Was sie auf ihren Bahren daherschleppen, sind formlose, verbrannte Massen. Als letzten bringen sie einen, dem Kopf und Rumpf völlig plattgequetscht sind. Sie sagen, es sei Valentiner … Während dieser schrecklichen Minuten sitze ich auf den Stufen der Eisentreppe, die zur Flankierbatterie führt. Dorthin hat es mich geworfen. Es ist schwierig, sich später über den Hergang solcher Geschehnisse genaue Rechenschaft abzulegen. Der betäubende Schlag, die Finsternis, das Durcheinander erfolgten zu rasch, um tiefer ins Bewußtsein zu dringen.« S. 86f., Sperrfort Rocca Alta, Luis Trenker

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»Und während wir für gewöhnlich hören konnten, wenn eine Granate angeflogen kam und wir in Deckung gingen, gab es bei einem Gewehrschuss keine Vorwarnung. Und obwohl wir mit der Zeit lernten, dass wir uns vor einer Gewehrkugel nicht zu ducken bräuchten, weil, wenn man den Schuss einmal gehört hatte, musste die Kugel einen bereits verfehlt haben, so machte uns Gewehrfeuer weit nervöser.« [meine Übersetzung:] And whereas we could usually hear a shell approaching, and take some sort of cover, the rifle-bullet gave no warning. So, though we learned not to duck a rifle-bullet because, once heard, it must have missed, it gave us a worse feeling of danger. S. 83, Goodbye to All That, Robert Graves.