Ein britischer Offizier des Nachrichtendienstes namens W. Byford-Jones wurde im Frühjahr 1947 nach Berlin beordert. Er notierte dort seine Erlebnisse und Eindrücke, die er wenig später in seinem Buch mit dem Titel: Berlin Twilight veröffentlichte und aus dem ich eine Passage zitiere.
Sollte mir also jemand sagen, dass das Jahr 2020 die dunkelste Stunde Deutschlands sei, dann zeigt es nur, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung jedes Maß an Verhältnismäßigkeit verloren und nicht die leiseste Ahnung von der eigenen Vergangenheit hat.
Manchmal verschlägt es mich am Morgen zum Wiener Stephansplatz. Dann bleibt nichts anderes übrig als im Schanigarten einer Wiener Kaffeehauskette einen Verlängerten zu schlürfen und dazu eine Topfengolatsche zu verputzen. Wenn man Glück hat, ergattert man ein Plätzchen mit Sicht auf den Steffl. Herz, was willst du mehr? Gegen 10 Uhr wird es dann freilich ein wenig unangenehm, weil Touristenschwärme summen und zirpen. Aber bis dahin hat man wohl schon in sein Tagebuch gekritzelt und ist bereit, für neue Abenteuer. Und weil ich noch nie den Südturm bestiegen habe, dachte ich mir, dass es nun an der Zeit sei. Gesagt, getan.
Für €4,50 darf man nicht nur 343 Stufen hinauf- und hinuntersteigen, sondern erhält als Bonus einen beachtlichen Drehwurm. Als ich gerade die ersten Stufen nehmen wollte, kam mir ein asiatisches Touristenpärchen entgegen – beiden waren ziemlich gezeichnet vom Abstieg. Die junge Frau schien mir in einer besseren Verfassung zu sein als der junge Mann, der scheinbar dem Hergott dankte, wieder zu ebener Erd gehen zu können. Ja, die enge Wendeltreppe ist kein Zuckerschlecken, da büßt man schon ordentlich Kalorien ein. Der „Gegenverkehr“ gestaltete sich aber nicht so schlimm wie anfänglich befürchtet – der eine drückt sich an die Mauer, der andere schiebt sich vorbei. Easy.
Das Glocken- und das Turmzimmer sind schon die Anstrengung wert. Mit dem Aufzug kann ja heutzutage jeder fahren. Aber 343 Stufen zu erklimmen, das hat schon durchaus etwas Gottergebenes. Vergessen wir nicht, dass bereits vor über einem halben Jahrtausend hier Menschen auf- und abgelaufen sind. Später sollte hier die Pummerin (türkische Kanonen!) bis 1945 ihren Platz finden – kaum zu glauben, wie man diese 20 Tonnen schwere Glocke damals durch halb Wien bewegen und in rund 60 Meter Höhe befestigen konnte. In den Nachtstunden hat der Turmwächter im Turmzimmer nach einem möglichen Feuer Ausschau gehalten und gegebenenfalls Alarm geschlagen. Ja, Feuer war seit jeher die größte Gefahr in einer von Wehranlagen eingegrenzten und dicht an dicht gebauten mittelalterlichen Stadt. The Great Fire of London, im Jahr 1666, zeigt, wie schnell ganze Häuserzeilen in Schutt und Asche übergehen können – im Tagebuch von Samuel Pepys ist dieses Großfeuer in aller emotionaler Deutlichkeit beschrieben.
Ja, manchmal braucht es ein Feuer. Ein inneres, versteht sich. Dieses innere Feuer – ist es göttlicher Natur? – wird am Ende all die bösen und dunklen Gedanken verbrennen, die einen plagen. Gerade in einer Zeit, in der man an einer Weggabelung steht, braucht es 343 Stufen und einen Drehwurm, um zu verstehen, worum es im Leben wirklich geht. Bedenken wir, dass der Stephansdom, in all seiner Größe, in all seiner Detailverliebtheit, vor über 500 Jahren Stein für Stein gebaut wurde. Unglaublich, dünkt es einen. Und doch hat der Mensch dieses unglaubliche Werk vollbracht. Daran soll man ermessen, wozu der Mensch – so er gemeinsam mit Gleichgesinnten an der Zukunft schmiedet – fähig ist. Ja, das sollte wir niemals vergessen.
Jürgen Schutz vom Septime Verlag reichte mir das neu aufgelegte Rosegger-Buch Weltgift (1903) mit den Worten: »Das könnte dich interessieren, ist sozialkritisch.« Nun gut, dachte ich mir, wenn er es mir ans Herz legt, der mutige Verleger, dann schau ich mir das an. Gesagt, gelesen.
Ich habe mich jetzt nicht extra schlau über Autor Rosegger, dem Waldbauernbubgoes Schriftsteller (1843-1918), gemacht, weiß nur, dass es da einen dunklen Fleck in seiner Vita gibt, dem ich gerne nachspüren möchte. Aber wie so oft, braucht jedes Forschen seine rechte Zeit und die ist wohl noch nicht gekommen. Nichtsdestotrotz könnte Weltgift ein erster Schritt in diese Richtung sein, gewissermaßen der Anstoß.
Morgenland und Abendland in trauter Zweisamkeit, 1683.
Heute, vor genau 332 Jahren war es, als die kaiserlich-polnischen Entsatztruppen das türkische Belagerungsheer vor den Toren Wiens in die Flucht schlugen. Die Stadt war, wenn man so will, befreit. Und die Stadtmauer – teuer in der Entstehung, teuer in der Erhaltung – rettete das Abendland vor dem Morgenland.
Stadtmauern, Burgmauern, Grenzwälle waren lange Zeit en vogue. Weltweit. In China schuf man über viele Generationen ein imposantes Mauerwerk: Die Chinesische Mauer, mit einer Länge von über 21.000 km, sollte die Reiterhorden aus dem Norden in die Schranken weisen. Nicht unähnlich dem Hadrianswall der Römer, die sich ebenfalls vor „nordischen Barbaren“ auf der britischen Insel schützen wollten. Wohin man auch schaut, die Vergangenheit zeigt uns ein Bild der Abschottung: Hier sind wir, dort sind die anderen.
Die Frage, die sich hier stellt, ist, ob diese von oben verordnete Trennlinie mit Einverständnis der gewöhnlichen Untertanen geschah. Oder waren es immer nur die Fürsten und Könige und Kaiser, die sich gegen all die fremden Mächte „aus dem Norden“ wehrten?
In Bezug auf die Stadt und ihre Mauern, so wissen wir, dass gerade diese schützende Funktion den Ausschlag für die Gründung gab. Die Menschen der damaligen Zeit suchten Schutz. Freiheit. Geborgenheit. Nicht nur vor fremden Völkern, sondern auch vor ihren Fürsten, die kein Bisschen von ihrer Macht abgeben wollten. Mit anderen Worten: der Bürger zog Stadtmauern hoch, nicht weil er Angst vor den fremden Völkern hatte, sondern vielmehr, weil das Mauerwerk ihm die Möglichkeit gab, in seiner Entscheidung frei von Einfluss zu sein. Sehen Sie, die Fürsten hatten keinerlei Skrupel, wenn es darum ging, die Untertanen zu besteuern oder zum Kriegsdienst heranzuziehen. Gelinde gesagt war es eine hierarchische Erpressung, die da ablief. Weil jeder so viel Recht hatte, wie er Macht respektive Gewalt hatte, wusste bereits Spinoza. Kein Wunder also, dass sich der gewitzte Untertan eine „Burg“ baute um so seine Verhandlungsposition beträchtlich zu verbessern. Den Bauern und Knechten blieb dagegen nur der Griff zum Dreschflegel, um der Obrigkeit anzuzeigen, dass es reichte. Während also der Bürger mit seinem Fürsten verhandeln konnte, blieb der Bauernschaft nur der blutige Aufstand. Sie sehen also, dass so eine Mauer Blutvergießen vermeiden konnte.
Ich plädiere übrigens seit geraumer Weile dafür, die Stadtmauern wieder hochzuziehen. Nicht, weil ich an Abgrenzung und Abschottung denke, sondern vielmehr an Freiheit. Ohne Mauer sind wir all den Fürsten ausgeliefert, die mit uns tun und lassen können, was sie für richtig halten. Am Ende sollte es immer die Gemeinschaft sein, die entscheidet. Vergessen wir das nicht.