Wenn Spiegel Online über Putins Rede schreibt

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Foto: (CC4.0) Presidential Executive Office – The Kremlin, Moscow

Gestern hielt der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin die jährliche Ansprache „zur Lage der Nation“ im Georgssaal des Kremlin. Dabei kam er auch auf die gegenwärtige Situation in Syrien und der Türkei zu sprechen. Im Spiegel Online Beitrag wird aus seiner Rede zitiert:

Bei seiner Rede zur Lage der Nation hat Präsident Wladimir Putin nun der Türkei massiv gedroht: „Ein Verrat ist immer eine Schmach. Wir wissen ganz genau, wer unseren Flieger abgeschossen hat“, sagte Putin.“

„Wer glaubt, dass es bei Wirtschaftssanktionen bleibt, der irrt sich gewaltig.“ Wie genau diese Reaktion jedoch aussehen werde, ließ Putin offen. Es solle jedoch verantwortungsvoll gehandelt werden. „Wir werden kein Säbelrasseln mit der Türkei zulassen.“ Sicherheitskräfte und Geheimdienste seien jedoch mobilisiert. Dann drohte er der Türkei aber erneut: „Das werden sie noch bereuen. Wir wissen, was zu tun ist.“

Der russische Präsident sagte, der Kreml sei zuvor bereit gewesen, über die sensibelsten Fragen mit der türkischen Regierung zu sprechen. Doch: „Offensichtlich hat Allah selbst beschlossen, die Verantwortlichen zu bestrafen.“

Wer die Original-Abschrift liest – auf der offiziellen Seite in englischer Sprache zu finden – kann sich selbst ein Bild der Rede machen. Und siehe da, der Autor des obigen Artikels dürfte entweder nicht gut Englisch können – bei den gegenwärtigen Sparmaßnahmen im Medienbereich keine Seltenheit mehr – oder er schlägt einfach in jene Anti-Putin-Kerbe, die bereits vor ihm seine Kollegen geschlagen haben.

Fakt ist, dass Putin nicht der Türkei drohte, sondern vielmehr einer „ruling clique“ bzw. einem „ruling establishment“, also einer Gruppe türkischer Machthaber, die für den Tod russischer Soldaten direkt verantwortlich sind und damit ein „abscheuliches Kriegsverbrechen“ (heinous war crime) begangen haben. Nur wenn man diesen kleinen, aber feinen Unterschied macht, versteht man, an wen die Drohung gerichtet ist und wie eine mögliche Reaktion aussehen könnte – immerhin betrifft die Reaktion ja keinen Staat oder ganzes Volk, sondern nur einzelne Gewährmänner in Ankara.

Dass der Redakteur „shameful“ mit „Schmach“ übersetzt, ist äußerst seltsam – möchte er damit etwas Bestimmtes andeuten? Im Kontext müsste es vielmehr „schändlich“ heißen. Besser, man liest den ganzen Absatz, um zu verstehen, was Putin wirklich sagte:

[meine Übersetzung:] Wir haben es immer als gegeben erachtet, dass Verrat und Betrug zum Schlimmsten und Schändlichsten gehört, was man tun kann, und diese Einstellung wird sich nie ändern. Ich möchte sie [die Clique] daran erinnern – jene Leute in der Türkei, die unsere Piloten hinterrücks abgeschossen haben, diese Heuchler und Scheinheiligen, die versuchten, ihre Taten zu rechtfertigen und die über die Terroristen ihre schützende Hand legen.“ // We have always deemed betrayal the worst and most shameful thing to do, and that will never change. I would like them to remember this – those in Turkey who shot our pilots in the back, those hypocrites who tried to justify their actions and cover up for terrorists.

Und Gott hat auch nicht selbst beschlossen, die Verantwortlich zu bestrafen. Das „Zitat“ liest sich im Original wie folgt:

[meine Übersetzung:] Ich glaube, nur Gott allein weiß, warum sie es taten. Und vielleicht hat Gott entschieden, die regierende Clique in der Türkei zu strafen, in dem er ihnen Verstand und Vernunft nimmt. // Allah only knows, I suppose, why they did it. And probably, Allah has decided to punish the ruling clique in Turkey by taking their mind and reason.

Sie sehen, was dabei herauskommen kann, wenn Journalisten und Redakteure schlampig und ungenau übersetzen. Aber wer weiß, vielleicht wird in den Redaktionsstuben gar nicht mehr übersetzt oder Quellmaterial ausgewertet, vielleicht sitzen ja auch gar keine Lebewesen mehr in den Medienhäuser, sondern die Artikel werden von einem Softwareprogramm  aus den Aussendungen der internationalen Presse-Agenturen zusammengezimmert und online gestellt.

Pressearbeit2.0 besteht somit nicht mehr im Recherchieren oder Hinterfragen offizieller Verlautbarungen, sondern nur noch im Programmieren und Warten der Schnittstellen zu Agenturen und PR-Büros. Die Zukunft kann beginnen.