Eine Clementine aus Korsika und ein turbulenter Flug von Nizza nach Wien

Das Festival International des Jeux in Cannes ging Sonntags zu Ende. Die Stadt zeigte sich von ihrer schönsten, so mild-frühlingshaften Seite – sah ich nicht sogar einen abgebrühten Kerl im Meer schwimmen? – der Abschied fiel wahrlich schwer. Die Abreise am Abend vom kleinen, hübsch aufgeräumten Flughafen in Nizza begann mit Verspätung. Da konnte keiner der Fluggäste ahnen, dass die Reise nach Wien recht turbulent werden würde. Aber der Reihe nach. Ich saß in der 29.

Es war kurz nach dem Start, als der wehmütige Blick zum Fenster ging, ich sah, wie die Lichterkette am Meer, im Dunkel der Nacht, immer kleiner und kleiner wurde und schließlich zur Gänze verschwand. Da kam ich mit meiner Sitznachbarin ins Gespräch. Wie es nun mal so ist, wenn man in einer entspannten Sentimentalität ist, plaudert man mehr aus dem Herzen als aus dem Kopf. Die gute Arianne – so will ich sie nennen – ist eine geborene Korsin, die bereits viel herumgekommen ist. Ihre Familie – wie könnte es anders sein – ist groß und über die ganze Welt verstreut. Da Korsika ein armes Land ist – verglichen mit anderen französischen Départements – mussten die jungen Landsleute oftmals in den ehemaligen Kolonien oder in den aufstrebenden Einwanderungsländern ihr Glück versuchen. Die Folge war das innerliche Zusammenrücken dieser kleinen Volksgruppe, die seit Generationen eine gebirgige Insel Heimat nennt. Durch die jahrhundertelange Besetzung Genuas sind die Korsen, die eine eigene Sprache sprechen, mehr Italiener denn Franzosen. Mit anderen Worten, die Familien- und Ehrstrukturen führten hie und da zu einer mafiösen Verbindung. Zufälligerweise sah ich noch Tage zuvor einen französischen Film, der die (korsische) „French Connection“ der 1970er Jahre zum Thema hatte. So war das damals.

Weil ich sie darum bat, befand Arianne über die gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Zustände in Frankreich und gab mir interessante Einblicke. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist groß, die Reformen der Regierung eines Macrons, vielleicht notwendig, sind äußerst unpopulär. Die Kluft zwischt Arm und Reich wird täglich größer, während die unorganisierte Revolte der Gelben Westen verpuffte – freilich, der Unmut ist noch immer da. Und wenn wir eines wissen, von den Franzosen, dann ist es, dass sie nicht gewillt sind, klein beizugeben. Im Gegensatz zum deutschen Nachbar, der gelernt hat, die Gegebenheiten, so unangenehm sie für ihn auch sein mögen, zu akzeptieren, sozusagen das Beste aus der schlimmen Situation zu machen und auf eine bessere Zukunft zu hoffen, wetzt der Franzose innerlich die Messer und wartet auf seine Chance, Änderungen herbeiführen zu können. Andere Länder, andere Sitten.

Freilich, Frankreich hat auch noch mit einer Bevölkerungsgruppe in ihren Grenzen zu tun, deren Loyalität zweifelhaft ist. Das darf niemanden ernstlich verwundern, sieht man sich die Histoire des 20. Jahrhunderts und die politisch-militärische Einflussnahme an, die Paris in den ehemaligen Kolonien ausgeübt hatte. Erschwerend kommt hinzu, dass die erfolglose Integration hasserfüllte Früchte trägt – der Film La Hain von Mathieu Kassovitz aus dem Jahr 1995 nimmt sich dieses Themas schonungslos an und zeigt die innere Welt der Ausgeschlossenen und der in die Banlieus, den Pariser „Ghettos“, Abgeschobenen. Wer trägt dafür die Schuld? Bildung, so viel steht fest, bedeutet in gewisser Weise auch Integration. Am Spielefest lernten wir eine junge Frau aus Kamerun kennen, die uns ein Brettspiel mit gutem Englisch erklären konnte und im Gespräch erzählte, dass sie Mathematik studieren wolle. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie von ihren Kollegen oder vom Publikum ausgegrenzt gewesen wäre – andererseits, gesellschaftliche Inklusion und Exklusion sind ein weites Feld. Oui, oui.

Die Kinder und Kindeskinder von Arianne sind auf der ganzen Welt verstreut. Es ist eine Familie, in der Sprache und Kultur nicht Hemmung, sondern Möglichkeit bedeuten. Es erinnert an Stefan Zweig, der die grenzenlose Welt vor 1914 in seinen Erinnerungen sentimental zeichnet. Dazu passen dann die auf der Promenade de la Croisette ausgestellten Fotos, die ein Cannes im Fin de Siècle zeigen, wo Aristokratie und bürgerlich-reiche Oberschicht die mild-sonnigen Wintermonate vorüberziehen ließen – während im Hintergrund ein Heer von Arbeitern und Bediensteten den Luxus der Wenigen erst möglich machte. Man lese George Orwells autobiographische Erzählung „Erledigt in Paris und London“ und man kann sich vorstellen, wie hart das Leben der „unsichtbaren Diener“ gewesen sein muss. C’est la vie.

Eigentlich würde hier meine kleine Geschichte enden, aber hie und da, wenn man sich seiner Sache zu sicher ist, setzt das Schicksal – wenigstens andeutungsweise – den Hobel an und schüttelt einen ordentlich durch. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Sturmtief, das über den Osten Österreichs herfiel und für heftige Sturmböen sorgte, machte aus einem langweilig routinierten Landeanflug eine Hochschaubahn der Gefühle. Den ersten Landeanflug musste der Kapitän vorzeitig abbrechen – der Wind wirbelte zu kräftig gegen das Flugzeug. Über Lautsprecher gab er den bleichen Fluggästen bekannt, dass er einen zweiten Anflug versuchen würde – und sollte das nicht klappen, er nach Bukarest ausweichen müsse. Entsetzte Gesichter. Es war bereits sehr spät geworden und die Aussicht, mit dem Bus mehrere Stunden durch die ungarische Nacht zu fahren, gefiel wohl niemanden so recht.

Generell bin ich recht abgebrüht, wenn es um fliegerische Turbulenzen geht – doch die Stimme des Kapitäns klang in meinen Ohren dann doch zu angespannt, so, als hätte er alle Hände voll zu tun. Ein mulmiges Gefühl in der Magengegend machte sich breit und ich musste Arianne um einen Schluck aus ihrer Mineralwasserflasche bitte. Es war mir sehr unangenehm, aber der staubtrockene Mund ließ mir keine Wahl. Arianne kramte in ihrer schweren Tasche („Was haben Sie da drinnen?“ „Nur den Laptop und Bücher!“) und holte für mich einen „Gruß aus Korsika“ hervor: eine am Morgen in ihrem Garten gepflückte Clementine. Ich war, wie soll man sagen, gerührt. Oui, das war ich.

Nach einer langen Schleife trotzte der Kapitän dem Sturm und setzte das Flugzeug auf Schwechater Asphalt auf. Die Erleichterung eskalierte in einem befreienden Applaus der Fluggäste. Ein schönes Gefühl, nach all den Turbulenzen und Luftlöchern, wieder festen Boden unter den Rädern zu haben.

Die letzte Zeile schreibe ich, man könnte sagen, unter blauem Himmel, bei Sonnenschein. Wien zeigt sich am Montag Vormittag von seiner schönsten Seite, nach dem es mich gestern Nacht recht enttäuscht hatte. So ist das eben in einer lebenslangen Beziehung – manchmal hat der Partner einfach nur eine schlechte Nacht gehabt und am Morgen ist alles vergessen. Arianne werde ich freilich nicht vergessen.

J’en suis sûr.

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