
Der Essay in der Beilage der linksalternativ-genossenschaftlich organisierten Berliner Tageszeitung TAZ mit dem Titel Grenzen abschaffen und laufenlassen ist an Naivität und Einfalt nicht mehr zu überbieten. Dass an diesem schlecht recherchierten und äußerst realitätsfremden Machwerk kein geringerer als Robert Menasse mitgewirkt hat, verblüfft und verblüfft auch wieder nicht, weil nun mal jedes Propagandawerk, soll es breite Wirkung erzielen, einen populären Namen vorzuweisen und ins Rennen zu schicken hat.
Der langatmige Artikel liest sich wie der Aufsatz einer 16-jährigen Streberin, die gut behütet im Villenviertel einer europäischen Metropole aufgewachsen ist und nun ein Privatinternat in der Schweiz besucht. Alles klingt so wunderbar, so romantisch, so weltoffen, so „die ganze Welt ist eine Familie“ – und die Fakten werden kurzerhand diesem Wunschbild angepasst. Erschreckend, dass solch ein irreführender Text veröffentlicht werden durfte – scheinbar gibt es in der ganzen TAZ-Redaktion keine Faktenchecker mehr.
„Denn Grenzenlosigkeit gab es in Europa die längste Zeit, vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.“
Ich frage mich, wie man so einen falschen Satz überhaupt nur andenken kann. Im Brockhaus von 1838 lesen wir beispielsweise unter dem Stichwort Fremde: »Gegenwärtig sind in Folge der politischen Untersuchungen und der vielen in Folge derselben unstät sich herumtreibenden Flüchtlinge in den meisten Staaten die Paßverordnungen (s. Paß) so streng gehandhabt worden, daß dadurch dem Aufenthalte und dem Reisen der Fremden große Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden.«
Natürlich waren die damaligen Grenzen weder exakt definiert noch lückenlos kontrolliert – jeder konnte für gewöhnlich ungehindert „einreisen“ – aber das heißt nicht, dass diese „Grenzenlosigkeit“ auch Reisefreiheit bedeutete. Denn früher oder später wurde der Fremde im Landesinneren nach seiner Legitimation gefragt. Und ob sich ein Fremder für eine geraume Weile oder für immer in der Fremde niederlassen durfte, hat mit Grenze und Grenzkontrollen nichts, aber auch gar nichts zu tun. Vergleichsweise könnte man behaupten, weil ein Privatgrundstück keine Umzäunung (Grenzkontrolle) aufweist, könne man dort sein Auto abstellen.
„Vor 1914 hat man kein Visum gebraucht, um mit der Droschke von Paris nach Moskau zu reisen“
Im Brockhaus von 1838 heißt es unter dem Stichwort Paß: »Im eignen Interesse sollte jeder, der die deutsche Grenze auf kürzere oder längere Zeit überschreitet, sich in den Besitz eines Reisepasses oder mindestens einer Paßkarte setzen. Im Grenzverkehr mit Rußland wird eine 28 Tage gültige Grenzkarte, sogen. Halbpaß, ausgestellt. Besonders streng ist die Paßkontrolle in Rußland, der Türkei und Portugal.«
Und dass Stefan Zweig nicht nur ein berühmter Schriftsteller seiner Zeit war, sondern auch Erbe eines großen Vermögens, haben die Autoren unter den Tisch fallen lassen. Es ist nun einmal so, dass Reichtum und Berühmtheit noch jede Grenze wie von Zauberhand geöffnet hat.
„Man musste [vor 1914] damals auch kein Geld wechseln – die Gulden nicht und nicht die Taler – oder wäre gar ins „europäische Ausland“ gereist, wenn man die Postkutsche von Wien nach Lemberg nahm und zwischendurch in Budapest haltmachte.“
Vielleicht ist den Autoren entgangen, dass Wien, Lemberg und Budapest vor 1918 allesamt zu einem Staatsgebiet gehörten, nämlich dem Kaiser- und Königreich Österreich-Ungarn. Somit waren diese Orte nur Provinzen eines großen staatlichen Wirtschaftsraumes – der mit 1919 natürlich verschwand.
„Das, was wir heute unter einem Pass verstehen, gibt es erst seit dem 21. Oktober 1920.“
Mag sein, dass es den Pass, so wir ihn heute verstehen, erst sei 1920 gibt. Fakt ist aber, dass Pässe, Paßports, Passbriefe, Paßkarten usw. eine gefühlte Ewigkeit in Verwendung waren und die auch nichts anderes gewesen sind, als »ein schriftliches, von der Polizeibehörde ausgestelltes Zeugniß für Reisende, womit dieselben sich an fremden Orten über ihre Person und den unverdächtigen Zweck ihrer Reise legitimiren können«. So steht es im Pierers Universal-Lexikon von 1861. Und diese Definition ist auch der springende Punkt bei alledem: Die Behörden im Zielland des Reisenden müssen sich sicher sein, dass dieser kein Halunke ist, der Böses im Schilde führt. Verzichtet man auf diese Legitimierung, dann sind all den Räubergesellen Tür und Tor geöffnet. Bevor man mir das Wort im Mund umdreht, sei festgehalten, dass ich damit nicht sagen möchte, dass alle Reisende Verbrecher seien, sondern dass es eine Möglichkeit geben muss, die schurkische Spreu vom rechtschaffenen Weizen zu trennen. Aber wer weiß, vielleicht ist diese Unterscheidung für die Autoren bereits diskriminierend.
„Tatsächlich ist im europäischen Diskurs schon früher die Ambition verloren gegangen, die EU als Projekt zu sehen, dessen Gründungsabsicht es war, Europa wieder zu europäisieren und die Nationalstaaten zu überwinden.“
Also, jetzt mal ehrlich, hätten Sie damals für die Aufnahme Österreichs in die EU mit „Ja“ gestimmt, wenn Sie gewusst hätten, dass es die Absicht gibt, Österreich als Nationalstaat „aufzulösen“? Glauben Sie, dass osteuropäischen Staaten, die sich ihre staatliche Souveränität gegen Ottomanen/Türken und Stalinisten blutig erkämpft haben, ihre Grenzen für die Illusion einer 16-jährigen Streberin aufgeben würden?
Sollte diese „Gründungsabsicht“ tatsächlich bestanden haben, so wage ich zu behaupten, dass man diese seinerzeit mit Absicht verheimlicht oder relativiert hatte. Vor Jahrzehnten war es demnach der Elite noch nicht möglich, über die „Überwindung der Nationalstaaten“ offen zu sprechen – heutzutage dürften die europäischen Bürger dafür bereits „reif“ genug sein. Ist es nicht schockierend, mit welcher Chuzpe die Elitisten nun beginnen, die „Festung“ Europa, die in Wirklichkeit aus all den souveränen Staatsburgen bestehen, sturmreif zu schießen, um sie „weltoffener“ zu machen? Weltoffen für wen? „[d]erzeit sind 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Misere“, geben uns die beiden Autoren die Antwort. Und sollten sich die Bürger dagegen wehren, sich verteidigen, nun, dann kommen wohl dunkle Zeiten auf sie zu – der Sturm einer eingeschlossenen und sich verteidigenden Stadt während des Dreißigjährigen Krieges hat an Gräuel alles zu bieten, was man sich gar nicht erst vorstellen mag. Stichwort: Magdeburgisieren. Im Brockhaus von 1839 lesen wir darüber:
„Der Kampf dauerte dabei noch in den Straßen der unglücklichen Stadt Magdeburg fort, welche drei Tage lang der grauenvollsten Verheerung durch Plünderung, Mord und Brand preisgegeben blieb, wovon der Sieger selbst an den Kaiser Ferdinand meldete: »Seit Trojas und Jerusalems Zerstörung ist keine solche Victoria gesehen worden.« Über 20.000 Einwohner jeden Standes, Alters und Geschlechts kamen dabei in den Flammen und unter allen erdenklichen Mishandlungen um, denen zu entgehen viele Jungfrauen den gemeinsamen Tod in der Elbe suchten; die wilden Soldaten zechten auf Leichenhaufen und nannten das die magdeburgische Hochzeit. Nur den Dom, eine andere Kirche und etwa 130 Häuser am Elbufer hatte der Brand verschont, und erst am vierten Tage wurden die etwa 4000 Menschen, welche sich in den Dom geflüchtet und eingeschlossen hatten, sowie die wenigen außerdem lebendig Gebliebenen ihres Daseins wieder sicher.“
Falls Sie sich also dann und wann mal fragen, wem daran gelegen sein könne, blühende Städte und ertragreiche Länder zu verwüsten und wehrhafte Bürger zu „entmannen“ – es gibt immer eine politisch-revolutionäre Gruppe, die von Befreiung und Gemeinwohl spricht, aber tatsächlich nur die Zerstörung und Vernichtung des Althergebrachten im Sinne hat – weil es dem Neuen und Revolutionären im Wege steht. Siehe diesbezüglich die Ausrottungsbestrebungen in der Vendée während der Französischen Revolution: »Der Befehl sieht vor, das aufständische Land in eine Einöde zu verwandeln: die Wälder abzubrennen, die Häuser in Brand zu setzen, das Vieh wegzutreiben, die Hecken abzuschneiden, die rebellische Region so zu behandeln, wie Ludwig XIV. mit der Pfalz verfahren war. Es handelt sich hier um eine Rhetorik der Ausrottung, die der Grausamkeit der Soldaten freie Hand gab und die einige Monate später zu einer grausigen Ernte organisierter Massaker führen sollte« [entn.: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution: Die Vendée von Francois Furet, S.269ff, 1996]
„Wie wäre es, wenn Flüchtlinge in Europa Bauland zugewiesen bekämen, benachbart zu den europäischen Städten, aber in einem Abstand, der die Andersartigkeit wahrt.“
Ehrlich, wer kommt auf so eine wahnwitzige Idee? Vielleicht erinnern sich die Autoren nicht mehr, dass sogenannte Enklaven über die Jahrhunderte immer wieder zu großen politischen oder gesellschaftlichen Problemen führten – spätestens dann, wenn die Region ihre Souveränität und damit Loslösung vom Nationalstaat forderte. Siehe Kosovo und Serbien, anno 1999. Natürlich kann man naiv hoffen, dass sich die Menschen hüben wie drüben als Brüder und Schwester in die Arme schließen werden – mit anderen Worten, dass Integration funktioniert. Aber wie wir wissen, gibt es nun mal integrationsunwillige Menschengruppen – sei es aus tief religiösen, sei es aus traditionellen Gründen. Die jüdische Minderheit in Venedig hatte beispielsweise niemals die Absicht, sich zu integrieren, vielmehr nahm sie mit einem ihr zugewiesenen Stadtviertel vorlieb, wo sie nach ihren eigenen Gesetzen und Gebräuchen leben konnte. Aber spätestens dann, wenn jüdische und christliche Bürger in Streit gerieten, musste Recht gesprochen werden, aber nach welchem und in welcher Sprache? Wie solche Streitigkeiten gelöst wurden, kann man beispielsweise bei Shakespeare nachlesen.
„Europa ist groß (und demnächst leer) genug, um ein Dutzend Städte und mehr für Neuankömmlinge aufzubauen.“
Seltsam. So ähnlich hörte es sich an, als all die weltoffenen Revolutionäre über Palästina sprachen. Das Ergebnis kann sich heute sehen lassen: Grenzkontrollen,Straßen-Checkpoints, Ausweispflicht, Grenzmauer, Apartheid und das größte Open-Air-Gefängnis der Welt. Warum Herr Menasse nicht nach Israel reist, um dort für die Abschaffung von Grenzen und die Überwindung des Nationalstaates zu plädieren, entschließt sich mir nicht, geht es doch nur um ein einziges Land, eine einzige Regierung, eine einzige Behörde. Wie schwer kann das schon sein, im Gegensatz zum Vielvölkergemisch Europa?
Der Artikel von Menasse und Guérot kann nur als propagandistische Auftragsarbeit verstanden werden. Und obwohl es sich im Großen wie im Ganzen um ein erbärmliches Machwerk handelt, wird es trotzdem weiteres Öl ins visionäre Feuer der weltoffenen Revolutionäre gießen. Vae victis.
Ein Gedanke zu „Menasse und der feuchte Traum der Elite: die grenzenlose Welt“