Rund 230 Jahre ist es nun her, als der gute Immanuel Kant seinen Aufsatz über die Aufklärung schrieb. Zwei Jahrhunderte sind ins Land gezogen, viel Geschichte ist in dieser Zeit passiert und es dünkt mir, dass gewisse Kräfte diesen Geist der Aufklärung am liebsten wieder in die Flasche zurückzwingen wollten.
Diese Kräfte bedienen sich freilich nicht mehr des katholischen Glaubens oder einer blutrünstigen revolutionären Urkraft, um dem Menschen daran zu hindern, das Gedachte auszusprechen. Nein, diese Kräfte haben mittels orwellschem Doppeldenken (doublethink) die demokratischen Grundpfeiler unserer zivilisierten Gesellschaft dermaßen untergraben, dass jeder ernstzunehmende Diskurs, der mittels Verstand und Vernunft, Fakten und Logik geführt wird, zum Scheitern verurteilt ist. Ja, es geht sogar soweit, dass der gewöhnliche Bürger sich selbst zensiert, sich selbst zum Schweigen zwingt, um nicht Gefahr zu laufen, auf den Scheiterhaufen geworfen oder ans Kreuz genagelt zu werden.
Braucht es demnach eine zweite Aufklärung, die unsereins aus dieser selbst auferlegten Unmündigkeit befreit? Oder ist der Zug längst abgefahren, haben wir diesen Kräften bereits das Feld überlassen? Stephen Pollard*, Redakteur der britischen Tageszeitung Jewish Chronicle, schreibt in der Daily Mail:
Da ich eine Zeitung redaktionell betreue, bin ich täglich mit dem Vermächtnis dieser einzigartigen Teufelei [1933-1945] konfrontiert, inklusive der Unterdrückung von Debatten, Verdrehung der Wahrheit und sogar dem Verbrennen von Büchern […] Die freie Meinungsäußerung – und damit einhergehend eine mögliche Kränkung (offence) – ist Grundlage der Freiheit selbst. […] Sollten wir uns vor Ideen verschließen, die uns verunsichern, dann ist die Langzeitfolge jene, dass unser Gedankenapparat verkümmert. Wir werden nicht mehr in der Lage sein, selbstständig zu denken. [meine Übersetzung]
Through editing the newspaper, I am confronted daily with the legacy of that unique evil, including the suppression of debate, the distortion of truth and even the burning of books at the heart of that terrible chapter in our history. […] free speech – and the offence which can come with it – is the bedrock of freedom itself. […] If we close our minds to ideas that upset us, the long-term consequence is that our minds will atrophy. We will no longer be able to think for ourselves.
Gewiss, ich könnte auf die virtuellen Barrikaden steigen und die zweite Aufklärung ausrufen, aber ich tauge nicht zum Märtyrer. Ich bin kein Held. Nur ein kleiner Schreiberling, fragil und furchtsam, der sich seine Gedanken macht und merkt, dass die Fanatiker und deren willige Anhänger seit längerem einen Kreuzzug gegen „Andersdenkende“ führen.
Zu guter Letzt möchte ich einen Abschnitt aus Oswald Spenglers 1933 erschienenem Buch Jahre der Entscheidung zitieren. Der Absatz behandelt die turbulent chaotische Regierungszeit des Römischen Volkstribuns Gaius Sempronius Gracchus, so wie sie »historisch überliefert« ist.
›Mit dem Kampf zwischen »Kapitalismus« und »Sozialismus« hat das gar nichts zu tun.** Im Gegenteil: die Klasse der großen Finanzleute und Spekulanten, die römischen equites, was seit Mommsen ganz irreführend mit Ritterschaft übersetzt wird, haben sich mit dem Pöbel und seinen Organisationen, den Wahlklubs (sodalicia) und bewaffneten Banden wie denjenigen des Milo und Clodius, immer sehr gut verstanden. Sie gaben das Geld her für Wahlen, Aufstände und Bestechungen, und C. Gracchus hat ihnen dafür die Provinzen zur unumschränkten Ausbeutung unter staatlicher Deckung preisgegeben, in denen sie namenloses Elend durch Plünderung, Wucher und den Verkauf der Bevölkerung ganzer Städte in die Sklaverei verbreiteten, und darüber hinaus die Besetzung der Gerichte, in denen sie nun über ihre eigenen Verbrechen urteilen und sich gegenseitig freisprechen konnten. Dafür versprachen sie ihm alles, und sie ließen ihn und seine ernstgemeinten Reformen fallen, als sie ihren eigenen Vorteil in Sicherheit gebracht hatten. Dieses Bündnis zwischen Börse und Gewerkschaft besteht heute wie damals. Es liegt in der natürlichen Entwicklung solcher Zeiten begründet, weil es dem gemeinsamen Haß gegen staatliche Autorität und gegen die Führer der produktiven Wirtschaft entspringt, welche der anarchischen Tendenz auf Gelderwerb ohne Anstrengung im Wege stehen. Marius, ein politischer Tropf wie viele volkstümliche Parteiführer, und seine Hintermänner Saturninus und Cinna dachten nicht anders als Gracchus; und Sulla, der Diktator der nationalen Seite, richtete deshalb nach der Erstürmung Roms unter den Finanzleuten ein furchtbares Gemetzel an, von dem sich diese Klasse nie wieder erholt hat. Seit Cäsar verschwindet sie als politisches Element vollständig aus der Geschichte. Ihr Dasein als politische Macht war mit dem Zeitalter der demokratischen Parteianarchie aufs engste verbunden und hat es mithin nicht überlebt.‹ [S. 61f.]
Was das jetzt mit dem Thema zu tun hat, fragen Sie? Nun, stellen Sie sich vor, diese Römischen Equites würden heutzutage die Zügel in der Hand halten. Das Letzte, was diese sogenannte »Ritterschaft« braucht, sind Menschen, die sich ihres eigenen Verstandes bedienen und dabei erkennen, welch perfides Spiel hier gespielt wird. Deshalb bedienen sich diese Kräfte des Pöbels_2.0, das sind kluge und gutgläubige Bürger, zumeist jung und aufstrebend, aber auch alteingesessen und ehrgeizig, deren wesentliche Aufgabe es ist, rebellische Aufklärer, mutige Skeptiker und populäre Volkstribune zum Schweigen zu bringen und den vorgegebenen politischen Weg der Equites zu ebnen.
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(*) Leider steht auch Stephen Pollard in der Kritik, Stimmen, die sich gegen Israels gegenwärtige Außenpolitik erheben, abzuwürgen.
(**) Vlg. dazu das Zitat des Ökonomen John K. Galbraith: »Im Kapitalismus beutet der Mensch den Menschen aus und im Kommunismus ist es genau umgekehrt.« // »Under capitalism man exploits man. Under communism it’s just the opposite«, übersetzt und zit. n. Al Gore, The Assault on Reason, Bloomsburry: London 2008, S. 95.
Übrigens, ich sagte es schon mal vor bald drei Jahren: Die Doku „Defamation“ von Yoav Shamir ist eine Empfehlung.
Hier mein damaliger Artikel dazu:
https://1668cc.wordpress.com/2015/02/04/defamation_shamir/
Eine zweite Aufklärung wird nicht viel bringen, wenn sie nicht mit einer ökonomischen Umwälzung einhergeht.
Sehen wir klar: wir leben in einem Zeitalter des Lohnsklaventums. Wir sind vernutzbar, weil wir in Schuldverhältnisse hineingeboren werden, die wir selbst nicht geschaffen haben.
Viele kluge Leute halten lieber den Mund, weil sie Angst vor sozialer Ächtung und Verlust der wirtschaftlichen Existenzgrundlage haben. Die spulen dann mit geballter Faust in der Hosentasche ihre Routine ab.
Wie weit ist dieses Erpressungssystem schon gediehen? Nun, es stimmt mit bedenklich, dass sich ausgerechnet in Oxfam, einem Verbund, der das Thema Vermögensungleichheit unermüdlich öffentlich macht, dass sich also ausgerechnet in diese aufklärerische Bewegung pädokriminelles Gesindel einschmuggeln konnte.
Obwohl, die Geschichte ist reich an Beispielen, von ehrenhaften Menschen, die sich nicht erpressen ließen. Gut, die sind dann zumeist verhungert oder verunglimpft, beflegelt oder verlacht, angeklagt oder exiliert worden – und dem einen oder anderen hat es sogar den Kopf gekostet. Eine zweite Aufklärung braucht demnach so etwas wie ein gesellschaftliches Gewissen oder – auch wenn der Begriff heutzutage nicht gerade positiv besetzt ist: Ehrgefühl. Der kanadische Professor und Psychologe Jordan Peterson ist gegenwärtig ein Internetphänomen, einfach, weil er mit Fakten und gesundem Menschenverstand diesem political correctness Wahnsinn Paroli bietet. Rhetorisch beschlagen ist er natürlich auch 🙂
Oxfam. Tja. Wir werden uns am Ende niemals sicher sein können, ob die Behauptungen stimmen oder einfach nur untergeschoben sind. Vielleicht ist Oxfam kontrollierte Opposition. Vielleicht wurde sie unterwandert. Vielleicht war es Korruption von einigen wenigen. Wer weiß, was im Hintergrund gespielt wird.
Deshalb ist eine „Umwälzung“ so schwer in Gang zu bringen. Man weiß nie, ob nicht das vielversprechende Rennpferd, auf das man all sein Geld gesetzt hat, ein lahmer Gaul ist.
Das ist es ja. Man muss differenzieren. Die Enthüllungen über das Verhalten von Oxfam-„Mitarbeitern“ etwa in Haiti entwerten die gut recherchierten und seit Jahren beachteten Studien von Oxfam über Vermögen und Entwicklungshilfe keineswegs.
Bloß, im Mainstream wird es so rübergebracht. Da wird gleich der ganze Oxfam-Verband entwertet und die Verlautbarungs-Politik stimmt gleich mit ein, wenn zB die EU und UK lautstark nach Subventions-Streichungen schreien. Das ist – ich nenn es einmal – „Bernay’s Basics“.
Was du über „Ehrgefühl“ gesagt hast, halte ich für sehr wichtig und nenn es einfach mal „persönliche Ethik“. Dazu gehört aber ein gerütteltes Maß an Selbsterkenntnis und Selbstreflexion.
In diesem Sinne: nicht nur „sapere aude“, sondern auch „gnothi seauton“.
lgb
„Gnothi seauton“? Aha. Griechisch für „Erkenne dich selbst“. Soll eine Inschrift am Apollotempel von Delphi sein,
Wieder etwas dazugelernt 🙂 Fein, fein.