Wien, im März 1938 #1 Helen Blank

Nun, es ist bald 80 Jahre her, dass Österreich zur Ostmark und ins damalige Deutsche Reich integriert wurde. Ob dieser sogenannte Anschluss freiwillig oder mittels Zwang erfolgte, darüber wird das eine oder andere Mal gestritten, weil damit auch die Frage nach Schuld und Komplizenschaft einhergeht. Je nach politischer Wetterlage wird der Opfermythos zum Spielball intellektueller Agitatoren.

Durch Zufall bin ich auf das Archiv des Leo Baeck Institutes in New York City gestoßen. Das Zentrum für jüdische Geschichte hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Leben der österreichischen Immigranten vor 1938 mittels eines Fragebogens zu dokumentieren. Im Internetarchiv können Sie einige der eingescannten Fragebögen durchsehen: link

Für diesmal möchte ich Frau Helen Blank vor den Vorhang bitten. Sie ist in Wien geboren, war Volksschullehrerin an einer nach dem Anschluss eingerichteten Talmud-Thora-Schule im 2. Bezirk und ist im Jänner 1939 in die USA emigriert.

Falls Sie wissen möchten, wie eine ordnungsgemäße Immigration in die USA in den 1930er Jahren abgelaufen ist, dann gucken Sie sich den Unterrichts- und Aufklärungsfilm über die Arbeiten des amerikanischen  Public Health Service an. Für die Ausstellung eines Visums war damals eine ärztliche Untersuchung zwingend erforderlich. Nur wenn der Immigrant körperlich und geistig gesund war, erhielt er eine Einreiseerlaubnis. Darüber habe ich übrigens vor einer Weile gebloggt.

Ich möchte die Erlebnisse von Frau Blank auf eine Weise verstanden wissen, dass es in Wien vor 1938 nicht nur Schurken und Teufeln gab, die auf ein Zeichen warteten, um Unheil über die kleine und große Welt zu bringen. Ich denke, ein bisschen Optimismus würde uns dieser Tage gut tun. Verallgemeinern wir nicht, ja, sehen wir genauer hin, bevor wir mit Schubladendenken einen Abschnitt in der Historie zu einem hollywoodesken Klischeefest machen. Auch wenn wir es nicht gerne hören wollen, aber es gibt immer zwei Seiten einer Medaille. Damals wie heute, heute wie morgen.

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1.4
Teilen Sie uns etwas über ihre Freunde und Bekannten mit.

Ich hatte in der Mehrheit nicht-jüdische Freunde – viele von diesen waren Freunde, mit einigen war ich sehr nah.
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1.6.
Kamen Sie oder Ihre Familie vor März 1938 mit Antisemitismus in Berührung?

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2.2.
Wie verhielten sich nicht-jüdische Freunde, Kollegen, Schulkameraden, Nachbarn, usw. gegenüber Ihnen und Ihrer Familie?

Sie waren hilfreich – auf ihre eigene Gefahr – gute Freunde blieben gute Freunde.

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2.5
Können Sie sich an daran erinnern, was Sie tun mussten, um die notwendigen Ausreisepapiere für Ihre Emigration zu erhalten?

Unzählige Stunden Schlange stehen und das viele Male. Ich konnte zwar den Pass für meine Mutter und meine Schwester bekommen, aber nicht meinen. Nach vielen Behördenbesuchen lief ich in einen Freund, den ich schon seit einer langen Zeit nicht gesehen habe. Ich ging gerade die Wendeltreppe hoch als er in einer SS-Uniform herunterkam. „Was machst du hier?“, fragte er und nach dem ich ihm die Sache erklärte, sagte er mir: „Das nächste Mal, wenn sie sagen: ‚Ihr Pass ist nicht hier.‘, antworte: ‚Bitte sehen Sie ein weiteres Mal nach.‘ Und so habe ich dann doch noch meinen Pass erhalten. An seinen Namen erinnere ich mich nicht mehr.

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2.6
Was wurde aus Ihrer Wohnung bzw. der Wohnung Ihrer Familie?

Meine Mutter musste drei Monate länger in Wien bleiben, nach dem ich und meine Schwester (polnisches Kontingent/Quota*) die Stadt verließen. Sie konnte die Einrichtung verkaufen; die Leute, die die Wohnung bekamen, ließen sie darin wohnen, bis sie in der Lage war, abzureisen. (Und diese Leute waren Nazis).

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*) Die USA vergab für jedes Land ein Einreisekontingent (Quota); so dürfte Frau Blank und ihre Schwester das österreichisch/deutsche Kontingent beansprucht haben und ihre Mutter das polnische (da sie im polnischen Teil der Monarchie vor 1918 geboren war). Warum die Vereinigten Staaten damals nicht bereit waren, mehr europäische Immigranten ins Land zu lassen, ist freilich selten Thema einer Diskussion.

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American Identification card issued for Kurt Konodi, dated 11/23/1939

So lesen wir in diesem Buch, dass im November 1938 mehr Wiener und Wienerinnen mit jüdischem Glauben, die älter als 60 Jahre alt waren, das polnische Quota in Anspruch nahmen als das österreichisch/deutsche: 375 Männer und 336 Frauen im Vergleich zu 201 Männer und 275 Frauen. Diese Wiener und Wienerinnen dürften sicherlich noch eine gute Vorstellung von Kaiser Franz Josef I. gehabt haben. Manch einer hat vielleicht sogar im 1. Weltkrieg auf österreichischer Seite gedient.

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